Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. lindern. Man versuchte den Verletzten so zu legen, daß die getroffene Stelle Von Zeit zu Zeit schien der Kranke mühselig nach Bewußtsein zu ringen, Auf dem Stilfser Joch. lindern. Man versuchte den Verletzten so zu legen, daß die getroffene Stelle Von Zeit zu Zeit schien der Kranke mühselig nach Bewußtsein zu ringen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0544" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197278"/> <fw type="header" place="top"> Auf dem Stilfser Joch.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1712" prev="#ID_1711"> lindern. Man versuchte den Verletzten so zu legen, daß die getroffene Stelle<lb/> mit kühlenden Umschlägen bedeckt werden konnte; stundenlang blieb Toni» an<lb/> dem Bette in knieender Stellung, weil der Kranke in mechanischer Bewegung<lb/> seinen Arm um den Kopf des Knaben geschlungen hatte. Unermüdlich sorgte<lb/> Nina, daß alles angewendet wurde, was die Erfahrung oder die Not in solchen<lb/> Fällen eingiebt. Als aber der Kranke auch bis zum andern Morgen sein Be¬<lb/> wußtsein nicht wieder erhielt, galt es, einen Arzt ans Bormio herbeizuschaffen;<lb/> doch zu dem Gange dorthin war zunächst niemand zu bewegen. Ein neuer<lb/> Schneefall war des Nachts unvermutet eingetreten, und den Weg nach dem Bade<lb/> machen, hieß sein eignes Leben aufs Spiel stellen. Während der Wirt mit<lb/> den Knechten und den rottsri darüber beriet, trat Nina unter sie und erklärte,<lb/> wenn sich niemand fände, der für den Freund in der Not sein Leben wagen<lb/> wollte, dann würde sie, die schwache Jungfrau, es thun und von der schmerzens¬<lb/> reichem Mutter Gottes geleitet den ärztlichen Beistand aus Bormio herbeischaffen.<lb/> Alle waren über die Worte dieses sonst so schüchternen Kindes betroffen und<lb/> sie sahen plötzlich, wie sich das Kind durch den großen Kummer seiner Seele<lb/> zur Jungfrau unigewandelt hatte, die eine Antigone in ihrem Schmerze schien.<lb/> Vittorio war der erste, der auf sie zutrat und ihr versprach, daß er sofort<lb/> den Weg antreten würde; sie solle aber für ihn beten, daß er glücklich herunter<lb/> käme, und für den Frieden seiner Seele, wenn er tot bliebe. Unterdes saß Vroni<lb/> im Krankenzimmer, teilnahmlos und still, nicht einmal um das Kind Sorge<lb/> tragend, dessen Leben so teuer bezahlt sein sollte; anstatt selbst zu helfen, war<lb/> sie auf die Hilfeleistung angewiesen, die ihr Rosina in mütterlicher Zärtlichkeit<lb/> widmete.</p><lb/> <p xml:id="ID_1713"> Von Zeit zu Zeit schien der Kranke mühselig nach Bewußtsein zu ringen,<lb/> und jede neue Bewegung erweckte in deu Umstehenden die Hoffnung auf eine<lb/> Besserung; nach vierundzwanzig Stunden kam Vittorio zurück, kein Arzt hatte<lb/> sich bereit finden lassen, mit dem treuen Burschen sein Leben zu wage«, doch<lb/> hatte mau ihm allerlei Medikamente mitgegeben, deren Anwendung freilich<lb/> nur genügte, um die sinkende» Lebensgeister Haralds auf einige Stunden zu<lb/> beleben, nicht aber um deu tötlichen Verlauf der Verletzung des Rückgrats zu<lb/> beseitigen. Als Harald zum erstenmal seit dem Unfälle die Augen aufschlug,<lb/> fiel sein Blick auf Vroni und Nina, die zu den beiden Seiten seines Bettes<lb/> knieten. Verwundert blieb sein Auge auf Nina hafte«, wie we»u er erst jetzt<lb/> die in ihrem Schmerz erblühte Schönheit der Jungfrau bemerkt hätte. Mit<lb/> einer Leidenschaft, wie sie dem Kinde bisher gefehlt hatte, stürzte sich das<lb/> Mädchen auf die Hand des Freundes und bedeckte sie schluchzend mit ihren<lb/> Thränen und Küssen. Harald zog das Mädchen an seine Brust und drückte<lb/> eiuen innigen Kuß auf ihre errötende Stirn; dann aber bat er sie, ihn mit<lb/> Vroni allein zu lassen, die ihn von früher her kenne, und mit der er noch einige<lb/> ernste Dinge besprechen wolle.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0544]
Auf dem Stilfser Joch.
lindern. Man versuchte den Verletzten so zu legen, daß die getroffene Stelle
mit kühlenden Umschlägen bedeckt werden konnte; stundenlang blieb Toni» an
dem Bette in knieender Stellung, weil der Kranke in mechanischer Bewegung
seinen Arm um den Kopf des Knaben geschlungen hatte. Unermüdlich sorgte
Nina, daß alles angewendet wurde, was die Erfahrung oder die Not in solchen
Fällen eingiebt. Als aber der Kranke auch bis zum andern Morgen sein Be¬
wußtsein nicht wieder erhielt, galt es, einen Arzt ans Bormio herbeizuschaffen;
doch zu dem Gange dorthin war zunächst niemand zu bewegen. Ein neuer
Schneefall war des Nachts unvermutet eingetreten, und den Weg nach dem Bade
machen, hieß sein eignes Leben aufs Spiel stellen. Während der Wirt mit
den Knechten und den rottsri darüber beriet, trat Nina unter sie und erklärte,
wenn sich niemand fände, der für den Freund in der Not sein Leben wagen
wollte, dann würde sie, die schwache Jungfrau, es thun und von der schmerzens¬
reichem Mutter Gottes geleitet den ärztlichen Beistand aus Bormio herbeischaffen.
Alle waren über die Worte dieses sonst so schüchternen Kindes betroffen und
sie sahen plötzlich, wie sich das Kind durch den großen Kummer seiner Seele
zur Jungfrau unigewandelt hatte, die eine Antigone in ihrem Schmerze schien.
Vittorio war der erste, der auf sie zutrat und ihr versprach, daß er sofort
den Weg antreten würde; sie solle aber für ihn beten, daß er glücklich herunter
käme, und für den Frieden seiner Seele, wenn er tot bliebe. Unterdes saß Vroni
im Krankenzimmer, teilnahmlos und still, nicht einmal um das Kind Sorge
tragend, dessen Leben so teuer bezahlt sein sollte; anstatt selbst zu helfen, war
sie auf die Hilfeleistung angewiesen, die ihr Rosina in mütterlicher Zärtlichkeit
widmete.
Von Zeit zu Zeit schien der Kranke mühselig nach Bewußtsein zu ringen,
und jede neue Bewegung erweckte in deu Umstehenden die Hoffnung auf eine
Besserung; nach vierundzwanzig Stunden kam Vittorio zurück, kein Arzt hatte
sich bereit finden lassen, mit dem treuen Burschen sein Leben zu wage«, doch
hatte mau ihm allerlei Medikamente mitgegeben, deren Anwendung freilich
nur genügte, um die sinkende» Lebensgeister Haralds auf einige Stunden zu
beleben, nicht aber um deu tötlichen Verlauf der Verletzung des Rückgrats zu
beseitigen. Als Harald zum erstenmal seit dem Unfälle die Augen aufschlug,
fiel sein Blick auf Vroni und Nina, die zu den beiden Seiten seines Bettes
knieten. Verwundert blieb sein Auge auf Nina hafte«, wie we»u er erst jetzt
die in ihrem Schmerz erblühte Schönheit der Jungfrau bemerkt hätte. Mit
einer Leidenschaft, wie sie dem Kinde bisher gefehlt hatte, stürzte sich das
Mädchen auf die Hand des Freundes und bedeckte sie schluchzend mit ihren
Thränen und Küssen. Harald zog das Mädchen an seine Brust und drückte
eiuen innigen Kuß auf ihre errötende Stirn; dann aber bat er sie, ihn mit
Vroni allein zu lassen, die ihn von früher her kenne, und mit der er noch einige
ernste Dinge besprechen wolle.
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