Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. sah er des Abends von einer nahen Anhöhe das ganze fruchtbare Jnnthal unter Auf dem Stilfser Joch. sah er des Abends von einer nahen Anhöhe das ganze fruchtbare Jnnthal unter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197240"/> <fw type="header" place="top"> Auf dem Stilfser Joch.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1618" prev="#ID_1617" next="#ID_1619"> sah er des Abends von einer nahen Anhöhe das ganze fruchtbare Jnnthal unter<lb/> sich liegen, ringsum eingeschlossen von bewaldeten Bergen, auf deren Spitze sich<lb/> hie und da eine Kapelle oder ein Kloster, das Ziel frommer Pilger, erhob.<lb/> Die Nacht begann sich herabzusenken, er fing an zu frösteln, und er machte sich<lb/> auf den Heimweg nach dem Gasthofe; aber er spürte mehr und mehr, wie ihn:<lb/> die Kräfte schwanden, er vermochte sich nur bis an die etwas niedriger gelegne<lb/> Dorfkirche zu schleppen und blieb endlich auf einer Ruhebank im Friedhof liegen.<lb/> Halb ohnmächtig fand ihn dort ein Bauernmädchen, das, des Tages über in<lb/> schwerer Feldarbeit, nur am Abend die Zeit gewann, sich an dem Grabe der kurz<lb/> vorher verstorbnen Mutter Tröstung und Mut zu holen. Trotz der Scheu vor<lb/> der Berührung mit dein Fremden sah die Dirne, daß hier Hilfe nötig sei, sie<lb/> besprengte ihn mit dem Wasser aus den Weihgefäßen, welche bei den einzelnen<lb/> Grübern waren; Harald kam wieder zu sich und vermochte, vou seiner Helferin<lb/> unterstützt, sein Gasthaus zu erreichen. Dort ward ihm wieder wohler; die Wirtin<lb/> brachte allerlei Mittel gegen das Fieber, und es gelang dem Kranken, einen<lb/> tiefen Schlaf zu finde», von dem er so gestärkt erwachte, daß er die Krisis<lb/> für überwunden glaubte. Er gab der Fußreise die Schuld an seiner ganzen<lb/> Unpäßlichkeit und nahm sich deshalb einen Wagen, um weiter hinein in die<lb/> Berge zu fahren; in dieser Ansicht wurde er bestärkt, als er sich immer kräftiger<lb/> fühlte, und so konnte er die schöne Reise über Imst, Landeck und den gro߬<lb/> artigen Paß von Hvchfinstermünz in vollen Zügen genießen. Je höher hinauf<lb/> er gelangte, desto wohler wurde es ihm, die scharfe Verzinst kühlte seine heiße<lb/> Stirn, die milde Einsamkeit der Natur besänftigte seine Erregung. Er bog<lb/> von Malz aus ab und beschloß über Prad nach dem Stilfser Joch zu gehen,<lb/> um dort auf dem höchsten Bergrücken einen längern Aufenthalt zu nehmen. Als<lb/> er des Abends spät in Trafen ankam, wiederholte sich der Zustand, deu er<lb/> in Nassereit erfahren hatte; es befiel ihn aufs neue Fieber und Frost, und er<lb/> mußte sogar mehrere Tage das Bett hüten, ehe er sich wieder erholen kannte.<lb/> Unterdes war die Mitte des Septembers längst überschritten; auf der Höhe<lb/> fing es an empfindlich kalt zu werden, und ans den Bergeshöhen war der frische<lb/> Schnee in nicht unbedeutender Höhe gefallen. Vergebens riet man ihm, entweder<lb/> in Trafoi zu bleiben oder uach Meran umzukehren, Harald wollte weiter hinauf,<lb/> und an einem schönen, aber kalten Herbstmorgen fuhr er die mächtige Straße<lb/> des Stelvio hinauf, der Österreich von der Schweiz und Italien trennt. Noch<lb/> einmal erhob sich seine Brust an den Niesenwerken der Natur, an deu Gletschern<lb/> und Felsen, in welche der kühne Menschengeist seine zwerghaften Spuren ein¬<lb/> gedrückt hatte. Der Maler wollte in der vierten vtmtoiüvrä, a.1 giogv al 8. Uf.ria<lb/> übernachten; gerade die stille Lage des Wirtshauses an der öden Mulde zog ihn<lb/> an. Auch übte die italienische Sprache, die zum erstenmale nach langen qual¬<lb/> vollen Jahren wie eine Erinnerung aus seiner schönsten Zeit wieder das Ohr<lb/> traf, einen mächtigen Reiz. Er war am Nachmittag in Santa Maria augelangt,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0506]
Auf dem Stilfser Joch.
sah er des Abends von einer nahen Anhöhe das ganze fruchtbare Jnnthal unter
sich liegen, ringsum eingeschlossen von bewaldeten Bergen, auf deren Spitze sich
hie und da eine Kapelle oder ein Kloster, das Ziel frommer Pilger, erhob.
Die Nacht begann sich herabzusenken, er fing an zu frösteln, und er machte sich
auf den Heimweg nach dem Gasthofe; aber er spürte mehr und mehr, wie ihn:
die Kräfte schwanden, er vermochte sich nur bis an die etwas niedriger gelegne
Dorfkirche zu schleppen und blieb endlich auf einer Ruhebank im Friedhof liegen.
Halb ohnmächtig fand ihn dort ein Bauernmädchen, das, des Tages über in
schwerer Feldarbeit, nur am Abend die Zeit gewann, sich an dem Grabe der kurz
vorher verstorbnen Mutter Tröstung und Mut zu holen. Trotz der Scheu vor
der Berührung mit dein Fremden sah die Dirne, daß hier Hilfe nötig sei, sie
besprengte ihn mit dem Wasser aus den Weihgefäßen, welche bei den einzelnen
Grübern waren; Harald kam wieder zu sich und vermochte, vou seiner Helferin
unterstützt, sein Gasthaus zu erreichen. Dort ward ihm wieder wohler; die Wirtin
brachte allerlei Mittel gegen das Fieber, und es gelang dem Kranken, einen
tiefen Schlaf zu finde», von dem er so gestärkt erwachte, daß er die Krisis
für überwunden glaubte. Er gab der Fußreise die Schuld an seiner ganzen
Unpäßlichkeit und nahm sich deshalb einen Wagen, um weiter hinein in die
Berge zu fahren; in dieser Ansicht wurde er bestärkt, als er sich immer kräftiger
fühlte, und so konnte er die schöne Reise über Imst, Landeck und den gro߬
artigen Paß von Hvchfinstermünz in vollen Zügen genießen. Je höher hinauf
er gelangte, desto wohler wurde es ihm, die scharfe Verzinst kühlte seine heiße
Stirn, die milde Einsamkeit der Natur besänftigte seine Erregung. Er bog
von Malz aus ab und beschloß über Prad nach dem Stilfser Joch zu gehen,
um dort auf dem höchsten Bergrücken einen längern Aufenthalt zu nehmen. Als
er des Abends spät in Trafen ankam, wiederholte sich der Zustand, deu er
in Nassereit erfahren hatte; es befiel ihn aufs neue Fieber und Frost, und er
mußte sogar mehrere Tage das Bett hüten, ehe er sich wieder erholen kannte.
Unterdes war die Mitte des Septembers längst überschritten; auf der Höhe
fing es an empfindlich kalt zu werden, und ans den Bergeshöhen war der frische
Schnee in nicht unbedeutender Höhe gefallen. Vergebens riet man ihm, entweder
in Trafoi zu bleiben oder uach Meran umzukehren, Harald wollte weiter hinauf,
und an einem schönen, aber kalten Herbstmorgen fuhr er die mächtige Straße
des Stelvio hinauf, der Österreich von der Schweiz und Italien trennt. Noch
einmal erhob sich seine Brust an den Niesenwerken der Natur, an deu Gletschern
und Felsen, in welche der kühne Menschengeist seine zwerghaften Spuren ein¬
gedrückt hatte. Der Maler wollte in der vierten vtmtoiüvrä, a.1 giogv al 8. Uf.ria
übernachten; gerade die stille Lage des Wirtshauses an der öden Mulde zog ihn
an. Auch übte die italienische Sprache, die zum erstenmale nach langen qual¬
vollen Jahren wie eine Erinnerung aus seiner schönsten Zeit wieder das Ohr
traf, einen mächtigen Reiz. Er war am Nachmittag in Santa Maria augelangt,
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