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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dein Stilfser Joch.

gegenüber sich noch nie hatte fortreißen lassen, fühlte sich tief ergriffen und ließ
in einer stillen Ecke, von einem Baume beschattet, seinen strömenden Thränen
freien Lauf, Erinnerungen an seine Kindheit stiegen ihm auf, da seine Mutter
ihm in der traulichen Stube die Geschichten der Bibel erzählt hatte, und er
erfuhr es wiederum an sich selbst, daß diese Leiden, welche jetzt dargestellt
wurde", da sie der ganzen Menschheit angehören, auch seiue eignen waren. Ihm
schien es, als ob er uoch einmal die Stätte seiiier Geburt beträte, noch einmal
den Klang jener zärtlichen Stimme hörte, noch einmal die ganze Passivnsfahrt
des eignen Lebens durchmachte. Harald hatte zuweilen das Gefühl, als ob der
Tod in diesem Augenblicke die höchste Seligkeit sein müsse, und der Eindruck
auf das menschliche Gemüt wäre noch überwältigender gewesen, wenn die den
Text begleitende Musik sich mit diesem ans der gleichen Höhe bewegt hätte.
Aber man merkte, daß der Komponist nicht weit von Salzburg lebte und unter
dem Einfluß Mozartscher Sonaten stand; so kam es, daß die weltliche Milde
der Musik die hohe Tragik des Dargestellten in angemessener Weise abschwächte,
und Harald bekannte sich, daß, wenn das Schauspiel von den Posaunentönen
des Händelschen Messias oder von Mendelssohnschen Paulusllängen begleitet
gewesen wäre, die Gesamtwirkung von einem sterblichen Herzen nicht hätte er¬
tragen werden können. Trotz der großen Abspannung wich Harald während
des achtstündigen Spieles nicht von seinem Platze und verweilte auch noch
am Abend allein in der Erinnerung auf demselben, als bereits der Fremden¬
zufluß in die verschiedensten Richtungen zurückgeströmt und an Stelle des
lärmenden Verkehrs wieder friedliche Stille im Dorfe eingetreten war. Erst bei
Anbruch der Nacht fuhr Harald nach Partenkirchen; hier war das eigentliche
Hauptquartier der Ammergauer Gäste, und Harald zog es daher vor, schon am
nächsten Morgen frühzeitig seinen Wanderstab zu ergreifen. Das Herz weidete
sich ihm, als er auf der einsamen Straße bald durch enge Steigen, bald durch
kühle Waldungen und immer mit dem Blicke auf die Zugspitze und deren
gewaltige Nachbarn gerichtet über Garmisch nach Lermvos zog. Dort blieb
er in der "Post" über Nacht und genoß noch am Abend von dem kleinen
Garten des Hauses jenes GebirgSbild erhabener Art, wo die tiefen Schatten
der Bergspitzen in den hellen Sternenhimmel hineinragten und ab und zu in
dem gespenstigen Lichte des Mondes erzitterten. Sein fieberhafter Zustand hatte
sich durch die Erregung des Pnssionsspiclcs freilich noch mehr gesteigert, er
verspürte keine Lust mehr zu schlafen, und es schien, als ob jede körperliche
Müdigkeit von ihm wiche und auch sein Herz immer leichter würde. Der nächste
Tag brachte ihn zu dem hochromantischen Fernpaß, an den dunkelgrünen, wie
verzaubert ruhenden Fernsteinsee mit den Trümmern der Sigismundburg bis
"ach Nassereit. Alles atmete Frieden rings um ihn her, und es überkam ihn
das Gefühl, als ob er alles überstanden habe, von der drückenden Last des
Körperlichen befreit sei und wie ein seliger Geist das Weltall durchziehe. Entzückt


Grmzbvtnl IV. 1885. 63
Auf dein Stilfser Joch.

gegenüber sich noch nie hatte fortreißen lassen, fühlte sich tief ergriffen und ließ
in einer stillen Ecke, von einem Baume beschattet, seinen strömenden Thränen
freien Lauf, Erinnerungen an seine Kindheit stiegen ihm auf, da seine Mutter
ihm in der traulichen Stube die Geschichten der Bibel erzählt hatte, und er
erfuhr es wiederum an sich selbst, daß diese Leiden, welche jetzt dargestellt
wurde», da sie der ganzen Menschheit angehören, auch seiue eignen waren. Ihm
schien es, als ob er uoch einmal die Stätte seiiier Geburt beträte, noch einmal
den Klang jener zärtlichen Stimme hörte, noch einmal die ganze Passivnsfahrt
des eignen Lebens durchmachte. Harald hatte zuweilen das Gefühl, als ob der
Tod in diesem Augenblicke die höchste Seligkeit sein müsse, und der Eindruck
auf das menschliche Gemüt wäre noch überwältigender gewesen, wenn die den
Text begleitende Musik sich mit diesem ans der gleichen Höhe bewegt hätte.
Aber man merkte, daß der Komponist nicht weit von Salzburg lebte und unter
dem Einfluß Mozartscher Sonaten stand; so kam es, daß die weltliche Milde
der Musik die hohe Tragik des Dargestellten in angemessener Weise abschwächte,
und Harald bekannte sich, daß, wenn das Schauspiel von den Posaunentönen
des Händelschen Messias oder von Mendelssohnschen Paulusllängen begleitet
gewesen wäre, die Gesamtwirkung von einem sterblichen Herzen nicht hätte er¬
tragen werden können. Trotz der großen Abspannung wich Harald während
des achtstündigen Spieles nicht von seinem Platze und verweilte auch noch
am Abend allein in der Erinnerung auf demselben, als bereits der Fremden¬
zufluß in die verschiedensten Richtungen zurückgeströmt und an Stelle des
lärmenden Verkehrs wieder friedliche Stille im Dorfe eingetreten war. Erst bei
Anbruch der Nacht fuhr Harald nach Partenkirchen; hier war das eigentliche
Hauptquartier der Ammergauer Gäste, und Harald zog es daher vor, schon am
nächsten Morgen frühzeitig seinen Wanderstab zu ergreifen. Das Herz weidete
sich ihm, als er auf der einsamen Straße bald durch enge Steigen, bald durch
kühle Waldungen und immer mit dem Blicke auf die Zugspitze und deren
gewaltige Nachbarn gerichtet über Garmisch nach Lermvos zog. Dort blieb
er in der „Post" über Nacht und genoß noch am Abend von dem kleinen
Garten des Hauses jenes GebirgSbild erhabener Art, wo die tiefen Schatten
der Bergspitzen in den hellen Sternenhimmel hineinragten und ab und zu in
dem gespenstigen Lichte des Mondes erzitterten. Sein fieberhafter Zustand hatte
sich durch die Erregung des Pnssionsspiclcs freilich noch mehr gesteigert, er
verspürte keine Lust mehr zu schlafen, und es schien, als ob jede körperliche
Müdigkeit von ihm wiche und auch sein Herz immer leichter würde. Der nächste
Tag brachte ihn zu dem hochromantischen Fernpaß, an den dunkelgrünen, wie
verzaubert ruhenden Fernsteinsee mit den Trümmern der Sigismundburg bis
»ach Nassereit. Alles atmete Frieden rings um ihn her, und es überkam ihn
das Gefühl, als ob er alles überstanden habe, von der drückenden Last des
Körperlichen befreit sei und wie ein seliger Geist das Weltall durchziehe. Entzückt


Grmzbvtnl IV. 1885. 63
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[0505] Auf dein Stilfser Joch. gegenüber sich noch nie hatte fortreißen lassen, fühlte sich tief ergriffen und ließ in einer stillen Ecke, von einem Baume beschattet, seinen strömenden Thränen freien Lauf, Erinnerungen an seine Kindheit stiegen ihm auf, da seine Mutter ihm in der traulichen Stube die Geschichten der Bibel erzählt hatte, und er erfuhr es wiederum an sich selbst, daß diese Leiden, welche jetzt dargestellt wurde», da sie der ganzen Menschheit angehören, auch seiue eignen waren. Ihm schien es, als ob er uoch einmal die Stätte seiiier Geburt beträte, noch einmal den Klang jener zärtlichen Stimme hörte, noch einmal die ganze Passivnsfahrt des eignen Lebens durchmachte. Harald hatte zuweilen das Gefühl, als ob der Tod in diesem Augenblicke die höchste Seligkeit sein müsse, und der Eindruck auf das menschliche Gemüt wäre noch überwältigender gewesen, wenn die den Text begleitende Musik sich mit diesem ans der gleichen Höhe bewegt hätte. Aber man merkte, daß der Komponist nicht weit von Salzburg lebte und unter dem Einfluß Mozartscher Sonaten stand; so kam es, daß die weltliche Milde der Musik die hohe Tragik des Dargestellten in angemessener Weise abschwächte, und Harald bekannte sich, daß, wenn das Schauspiel von den Posaunentönen des Händelschen Messias oder von Mendelssohnschen Paulusllängen begleitet gewesen wäre, die Gesamtwirkung von einem sterblichen Herzen nicht hätte er¬ tragen werden können. Trotz der großen Abspannung wich Harald während des achtstündigen Spieles nicht von seinem Platze und verweilte auch noch am Abend allein in der Erinnerung auf demselben, als bereits der Fremden¬ zufluß in die verschiedensten Richtungen zurückgeströmt und an Stelle des lärmenden Verkehrs wieder friedliche Stille im Dorfe eingetreten war. Erst bei Anbruch der Nacht fuhr Harald nach Partenkirchen; hier war das eigentliche Hauptquartier der Ammergauer Gäste, und Harald zog es daher vor, schon am nächsten Morgen frühzeitig seinen Wanderstab zu ergreifen. Das Herz weidete sich ihm, als er auf der einsamen Straße bald durch enge Steigen, bald durch kühle Waldungen und immer mit dem Blicke auf die Zugspitze und deren gewaltige Nachbarn gerichtet über Garmisch nach Lermvos zog. Dort blieb er in der „Post" über Nacht und genoß noch am Abend von dem kleinen Garten des Hauses jenes GebirgSbild erhabener Art, wo die tiefen Schatten der Bergspitzen in den hellen Sternenhimmel hineinragten und ab und zu in dem gespenstigen Lichte des Mondes erzitterten. Sein fieberhafter Zustand hatte sich durch die Erregung des Pnssionsspiclcs freilich noch mehr gesteigert, er verspürte keine Lust mehr zu schlafen, und es schien, als ob jede körperliche Müdigkeit von ihm wiche und auch sein Herz immer leichter würde. Der nächste Tag brachte ihn zu dem hochromantischen Fernpaß, an den dunkelgrünen, wie verzaubert ruhenden Fernsteinsee mit den Trümmern der Sigismundburg bis »ach Nassereit. Alles atmete Frieden rings um ihn her, und es überkam ihn das Gefühl, als ob er alles überstanden habe, von der drückenden Last des Körperlichen befreit sei und wie ein seliger Geist das Weltall durchziehe. Entzückt Grmzbvtnl IV. 1885. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/505>, abgerufen am 15.01.2025.