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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Großbulgarien.

sie sich mit der Naschheit eines Dekvrativuswechsels. Die Verschwornen erhoben
sich plötzlich und geräuschlos, nahmen den Gouverneur, der nichts ahnte, in
seinem Kouak beim Frühstück gefangen, erklärten die Vereinigung Ostrumcliens
mit Bulgarien und errichteten eine provisorische Regierung mit einem Präsi¬
denten, worauf der Fürst von Bulgarien hiervon in Kenntnis gesetzt wurde.
Dieser endlich erließ ohne Verzug ein Manifest, in welchen: er die "Union" als
vollendete Thatsache anerkannte und den Titel eines Fürsten von Nord- und
Südbulgaricn annahm. Grvßbulgarieu war, soweit es auf ihn ankam, fertig.

Kein Überlegen, kein Stocken, kein Widerstand. Es war wie aus der
Pistole geschossen, aus der Taschenspielerpistvle. Die, welche nicht im Ge¬
heimnis waren, müssen von der Sache wie von Schneefall im Hochsommer
überrascht gewesen sein. Indes war sie doch kein Wunder, sondern ein Er¬
eignis, das von 1878 an in der Luft schwebte, ein Pulses, der schon längst als
Traum existirt hatte.

Der Friede von San Stefano, den Rußland der besiegten Türkei auf¬
zwang, hatte ein Bulgarien geschaffen, das von der Donau über den Balkan
und über die Maritza südlich bis ans Ägcische Meer, im Westen bis tief nach
Macedonien hinein und im Osten bis über die Bucht von Burgas hinabreichte.
Die Berliner Konferenz vereinbarte eine Änderung und Beschränkung dieser
Schöpfung aus Gründen politischer Opportunist, indem sie vorzüglich den
Einspruch Englands berücksichtigte, welches eine so weitgehende Schwächling der
Pforte lind eine so große Ausdehnung der russischen Machtsphäre nicht zu¬
geben zu können erklärte. So kam eine Teilung der vorzugsweise von Bulgaren
bewohnten Gebiete zustande, nach welcher die südlich vom Balkan gelegnen
teils unbedingt, teils unter gewissen Bedingungen bezüglich der Verwaltung bei
der Türkei verblieben, während der Nest zu einem selbständigen Fürstentum er¬
hoben wurde. Das letztere bekam den Namen Bulgarien und später durch freie
Wahl der Volksvertretung in der Person Alexanders von Ballenberg einen
Fürsten. Der Sultan war nach dem Friedensiustrumeute dessen Suzerän und
hatte dessen Wahl, wenn sie giltig sein sollte, zu bestätigen, much mußte das
Laud an die Pforte einen bestimmten Jahrestribnt entrichten, sonst aber sollte es
von dieser völlig unabhängig sein. Anders wurde in Berlin das Verhält¬
nis Bulgariens südlich vom Balkan zur Pforte festgestellt. Artikel 13 des
Friedensvertrages bestimmte: "südlich vom Balkan wird eine Provinz gebildet,
welche den Namen Ostrumelien führen und unter der unmittelbaren politischen
und administrativen Autorität Seiner Kaiserlichen Majestät des Sultans, jedoch
mit administrativer Autonomie verbleiben wird. Sie wird einen christlichen
Generalgouvemeur erhalte"." Artikel 14 umschrieb die Grenzen der Pro¬
vinz in der Weise, daß der Balkan sie im Norden von Bulgarien abschloß,
daß ferner ein breiter Landstrich sie vom Ägeischen Meere trennte, und daß
kein Teil voll Macedonien ihr zugewiesen würde. Nach Artikel 13 sollte


Großbulgarien.

sie sich mit der Naschheit eines Dekvrativuswechsels. Die Verschwornen erhoben
sich plötzlich und geräuschlos, nahmen den Gouverneur, der nichts ahnte, in
seinem Kouak beim Frühstück gefangen, erklärten die Vereinigung Ostrumcliens
mit Bulgarien und errichteten eine provisorische Regierung mit einem Präsi¬
denten, worauf der Fürst von Bulgarien hiervon in Kenntnis gesetzt wurde.
Dieser endlich erließ ohne Verzug ein Manifest, in welchen: er die „Union" als
vollendete Thatsache anerkannte und den Titel eines Fürsten von Nord- und
Südbulgaricn annahm. Grvßbulgarieu war, soweit es auf ihn ankam, fertig.

Kein Überlegen, kein Stocken, kein Widerstand. Es war wie aus der
Pistole geschossen, aus der Taschenspielerpistvle. Die, welche nicht im Ge¬
heimnis waren, müssen von der Sache wie von Schneefall im Hochsommer
überrascht gewesen sein. Indes war sie doch kein Wunder, sondern ein Er¬
eignis, das von 1878 an in der Luft schwebte, ein Pulses, der schon längst als
Traum existirt hatte.

Der Friede von San Stefano, den Rußland der besiegten Türkei auf¬
zwang, hatte ein Bulgarien geschaffen, das von der Donau über den Balkan
und über die Maritza südlich bis ans Ägcische Meer, im Westen bis tief nach
Macedonien hinein und im Osten bis über die Bucht von Burgas hinabreichte.
Die Berliner Konferenz vereinbarte eine Änderung und Beschränkung dieser
Schöpfung aus Gründen politischer Opportunist, indem sie vorzüglich den
Einspruch Englands berücksichtigte, welches eine so weitgehende Schwächling der
Pforte lind eine so große Ausdehnung der russischen Machtsphäre nicht zu¬
geben zu können erklärte. So kam eine Teilung der vorzugsweise von Bulgaren
bewohnten Gebiete zustande, nach welcher die südlich vom Balkan gelegnen
teils unbedingt, teils unter gewissen Bedingungen bezüglich der Verwaltung bei
der Türkei verblieben, während der Nest zu einem selbständigen Fürstentum er¬
hoben wurde. Das letztere bekam den Namen Bulgarien und später durch freie
Wahl der Volksvertretung in der Person Alexanders von Ballenberg einen
Fürsten. Der Sultan war nach dem Friedensiustrumeute dessen Suzerän und
hatte dessen Wahl, wenn sie giltig sein sollte, zu bestätigen, much mußte das
Laud an die Pforte einen bestimmten Jahrestribnt entrichten, sonst aber sollte es
von dieser völlig unabhängig sein. Anders wurde in Berlin das Verhält¬
nis Bulgariens südlich vom Balkan zur Pforte festgestellt. Artikel 13 des
Friedensvertrages bestimmte: „südlich vom Balkan wird eine Provinz gebildet,
welche den Namen Ostrumelien führen und unter der unmittelbaren politischen
und administrativen Autorität Seiner Kaiserlichen Majestät des Sultans, jedoch
mit administrativer Autonomie verbleiben wird. Sie wird einen christlichen
Generalgouvemeur erhalte»." Artikel 14 umschrieb die Grenzen der Pro¬
vinz in der Weise, daß der Balkan sie im Norden von Bulgarien abschloß,
daß ferner ein breiter Landstrich sie vom Ägeischen Meere trennte, und daß
kein Teil voll Macedonien ihr zugewiesen würde. Nach Artikel 13 sollte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/50>, abgerufen am 15.01.2025.