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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die dramatische Kunst G, v. Wildenbruchs.

Welche uns Dinge und Menschen in ihrer nackten Gestalt zeigt, nicht für Poesie
halten kann. Auch in der Wirklichkeit des Lebens vermögen uns weder diejenigen
anzuziehen, welche hinter einem gewissen Maße zurückbleiben, noch die andern,
welche dasselbe überschreiten. Wir wissen sehr wohl, daß Ophelia, durch das
Scheitern ihres höchsten Glückes wahnsinnig geworden, in Wirklichkeit sich
vielleicht anders geberden würde, aber der Dichter thut wohl, nicht den ganzen
schrillen Ton der springenden Saite an unser Ohr dringen zu lassen, sondern
ihn wohlthätig zu mildern und zu dämpfen. In den leisen, ins Irre gehenden
Lauten, die den Lippen Ophelias entströmen, liegt genug, um uns die ganze
Schwere des Unglücks, von der sie erdrückt wird, nahe zu bringen. Ja diese
Art des Dichters leistet mehr als die entgegengesetzte, weil sie, ohne selbst
vorweg zu nehmen, es der Phantasie der Hörenden überläßt, die Größe des
Jammers sich so weit auszumalen, als es jedem nach seiner Natur gut scheint.
Denn diese muß Spielraum haben, um den Gedanken und die Empfindung,
welche der Dichter nur bis zu einer gewisse,: Grenze angeschlagen und verfolgt
hat, über diese hinaus beliebig weiter zu führen.

Noch an einem andern Punkte, aber nicht im Hinblick auf das Wie, sondern
auf das Was, Hütte der Dichter sich eine Beschränkung auferlegen sollen. Das
Maß des Unglücks, das den alten Bergmann betroffen hat, ist wahrlich groß
genug, der Dichter hat nicht nötig, noch auf Vermehrung desselben bedacht zu
sein. Auch sonst liegt nirgends eine Veranlassung vor, den zweiten Sohn durch
wissentliche Teilnahme an der Schuld des Vaters mit in den Wirbel seines
Unglücks hineinzuziehen und darin untergehen zu lassen. Man wird vielleicht
einwenden, daß er sonst die Pläne desselben durchkreuzt haben würde, und daß
seine Hilfe zur Überrumpelung Kiistrius nötig war, aber der Dichter konnte andre
Auswege finden, und dazu hätte ihn schon die Aussicht auf einen großen poetischen
Vorteil bewegen sollen. Wie er den Obersten von Jngcrsleben nicht bloß aus
Feigheit handeln läßt, so hätte er auch hier gut gethan, dessen Feind nicht ganz
in seinem Nacheplan aufgehen zu lassen. Zweifel und Kampf in der Brust
auch dieses Vaters würde nicht minder wirkungsvoll gewesen sein als bei jenem,
und wenn schließlich die Waage sich dahin geneigt hätte, den Sohn von seinem
geplanten Verbrechen fern zu halten, so würde das unser Interesse und Mit¬
gefühl in weit höherm Grade erwecken, als es ihm nun zuteil wird, da er den¬
selben mit allen Mitteln zur Mitschuld zwingt.

Und diese Mitschuld ist auch für den letztern -- denn über dessen Charakter
habe ich nnr noch zu sprechen -- in hohem Maße verhängnisvoll. Nicht
deshalb, weil er dadurch in Gefahr und Konflikt kommt, denn diese sind eben
die dramatische Voraussetzung, wenn sie auch in ähnlicher Weise wie beim jungen
Jngcrsleben dnrch einen Irrtum oder Fehltritt herbeigeführt werden könnten.
Aber sie stellt sich als ein Zuviel heraus, das den endlichen Absichten des
Dichters hindernd in den Weg tritt. Im dritten Akte, wo Heinrich in Berlin


Grmzbowi IV. 133K. Vt
Die dramatische Kunst G, v. Wildenbruchs.

Welche uns Dinge und Menschen in ihrer nackten Gestalt zeigt, nicht für Poesie
halten kann. Auch in der Wirklichkeit des Lebens vermögen uns weder diejenigen
anzuziehen, welche hinter einem gewissen Maße zurückbleiben, noch die andern,
welche dasselbe überschreiten. Wir wissen sehr wohl, daß Ophelia, durch das
Scheitern ihres höchsten Glückes wahnsinnig geworden, in Wirklichkeit sich
vielleicht anders geberden würde, aber der Dichter thut wohl, nicht den ganzen
schrillen Ton der springenden Saite an unser Ohr dringen zu lassen, sondern
ihn wohlthätig zu mildern und zu dämpfen. In den leisen, ins Irre gehenden
Lauten, die den Lippen Ophelias entströmen, liegt genug, um uns die ganze
Schwere des Unglücks, von der sie erdrückt wird, nahe zu bringen. Ja diese
Art des Dichters leistet mehr als die entgegengesetzte, weil sie, ohne selbst
vorweg zu nehmen, es der Phantasie der Hörenden überläßt, die Größe des
Jammers sich so weit auszumalen, als es jedem nach seiner Natur gut scheint.
Denn diese muß Spielraum haben, um den Gedanken und die Empfindung,
welche der Dichter nur bis zu einer gewisse,: Grenze angeschlagen und verfolgt
hat, über diese hinaus beliebig weiter zu führen.

Noch an einem andern Punkte, aber nicht im Hinblick auf das Wie, sondern
auf das Was, Hütte der Dichter sich eine Beschränkung auferlegen sollen. Das
Maß des Unglücks, das den alten Bergmann betroffen hat, ist wahrlich groß
genug, der Dichter hat nicht nötig, noch auf Vermehrung desselben bedacht zu
sein. Auch sonst liegt nirgends eine Veranlassung vor, den zweiten Sohn durch
wissentliche Teilnahme an der Schuld des Vaters mit in den Wirbel seines
Unglücks hineinzuziehen und darin untergehen zu lassen. Man wird vielleicht
einwenden, daß er sonst die Pläne desselben durchkreuzt haben würde, und daß
seine Hilfe zur Überrumpelung Kiistrius nötig war, aber der Dichter konnte andre
Auswege finden, und dazu hätte ihn schon die Aussicht auf einen großen poetischen
Vorteil bewegen sollen. Wie er den Obersten von Jngcrsleben nicht bloß aus
Feigheit handeln läßt, so hätte er auch hier gut gethan, dessen Feind nicht ganz
in seinem Nacheplan aufgehen zu lassen. Zweifel und Kampf in der Brust
auch dieses Vaters würde nicht minder wirkungsvoll gewesen sein als bei jenem,
und wenn schließlich die Waage sich dahin geneigt hätte, den Sohn von seinem
geplanten Verbrechen fern zu halten, so würde das unser Interesse und Mit¬
gefühl in weit höherm Grade erwecken, als es ihm nun zuteil wird, da er den¬
selben mit allen Mitteln zur Mitschuld zwingt.

Und diese Mitschuld ist auch für den letztern — denn über dessen Charakter
habe ich nnr noch zu sprechen — in hohem Maße verhängnisvoll. Nicht
deshalb, weil er dadurch in Gefahr und Konflikt kommt, denn diese sind eben
die dramatische Voraussetzung, wenn sie auch in ähnlicher Weise wie beim jungen
Jngcrsleben dnrch einen Irrtum oder Fehltritt herbeigeführt werden könnten.
Aber sie stellt sich als ein Zuviel heraus, das den endlichen Absichten des
Dichters hindernd in den Weg tritt. Im dritten Akte, wo Heinrich in Berlin


Grmzbowi IV. 133K. Vt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/489>, abgerufen am 15.01.2025.