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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die dramatische Runst L> v. Wildenbruchs.

Franzosen seine Hilfe anzubieten; noch in derselben Nacht werden mit Hilfe
seines zweiten Sohnes die Vorbereitungen zur Überrumpelung der Stadt ge¬
troffen.

Das ist mit kurzen Worten der Inhalt des ersten Aktes -- wie man sieht,
große Ursachen, denen die Wirkungen entsprechend sind. Auch in ihrer Dar¬
stellung ist es dem Dichter gelungen, machtvoll auf die Gemüter zu wirken.
Der Haß und die Rachsucht des Mannes aus dem Volke entspreche" der Mut¬
losigkeit und Verzweiflung des Aristokraten, hier wie dort wird der Leser oder
Hörer in stürmische Mitleidenschaft gezogen. Und doch -- so heftig der Dichter
mit den Ergüssen des an Wahnsinn grenzenden Schmerzes des Volksschullehrers
auf uns eindringt, so erreicht er künstlerisch doch nicht, was ihm in der Schilderung
des Obersten gelingt. Ob Wildenbruch den Charakter des erstern nicht mit der
Sicherheit erfaßt hat wie den des letztern, oder ob er auch hier, wie es leider
sonst seine Manier so oft ist, nur auf den äußern szenischen Effekt hin gearbeitet
hat, jedenfalls ist das Ergebnis dasselbe, und derjenige, der genauer aufmerkt
und nicht bloß mit den äußern Organen der Wahrnehmung, kann sich keineswegs
in harmonischer Stimmung befinden. Der Grund davon liegt darin, daß der
Dichter den richtigen Ton nicht findet, der für die Empfindungen des Alten
hinsichtlich des zu erregenden Mitgefühls zutreffend ist. Wenn man die ein¬
schlagenden Stellen mehrmals und mit Überlegung liest, so kommt es einem
vor, als ob der Dichter selbst das Gefühl hiervon gehabt hätte und bemüht
gewesen wäre, in immer erneuerten Ausbrüchen der Leidenschaft die richtige
Färbung im Ausdruck zu finden. Aber dabei widerfährt es ihm, daß er nicht
sowohl in der Wiederholung dieser Ergüsse, als in ihrer Tongcbung über das
Ziel hinausschießt. Wenn der Dichter im Unterschied vom bildenden Künstler
seine Personen im Schmerze aufschreien lasten darf, so muß er sich doch davor
hüten, von dieser Freiheit zu häusigen Gebrauch zu machen, und vor allem hat
er darauf Bedacht zu nehmen, daß sie sich nicht überschreien. Der Wehruf,
der aus der schmcrzzerrisfenen Brust hervordringt, muß immer ein menschlicher
Laut sein und seinen Wiederhall im Herzen des Hörenden finden, sonst läuft
er Gefahr, das Mitleid zu verfehlen, das er erwecken soll, und vielmehr Anstoß
zu erregen. Hierin, glaube ich, liegt an dieser Stelle der Fehler, der Wilden-
bruch vorgehalten werden muß. Es ist hier ein so starker Antrieb zum Handeln,
als man sich nur denken kann, und man begreift vollkommen, wie der unglück¬
liche Alte zum Vaterlandsverräter wird. Aber wenn die That schon erklärlich
ist, weshalb muß sie von so düstern, blutigen, unartikulirter Lauten begleitet
werden? Der Schmerz treibt den bejammernswerten Vater fast zum Wahnsinn,
aber wenn er schon wahnsinnig wäre, würde der Dichter seine Kunst üben, wenn
er ans der Bühne Worte und Geberden eines seinem Wärter entsprungenen
Tollhäuslers von ihm ausgehen lassen wollte? Man spricht in neuerer Zeit
viel von Realismus und Naturalismus. Ich muß gestehen, daß ich die Kunst,


Die dramatische Runst L> v. Wildenbruchs.

Franzosen seine Hilfe anzubieten; noch in derselben Nacht werden mit Hilfe
seines zweiten Sohnes die Vorbereitungen zur Überrumpelung der Stadt ge¬
troffen.

Das ist mit kurzen Worten der Inhalt des ersten Aktes — wie man sieht,
große Ursachen, denen die Wirkungen entsprechend sind. Auch in ihrer Dar¬
stellung ist es dem Dichter gelungen, machtvoll auf die Gemüter zu wirken.
Der Haß und die Rachsucht des Mannes aus dem Volke entspreche» der Mut¬
losigkeit und Verzweiflung des Aristokraten, hier wie dort wird der Leser oder
Hörer in stürmische Mitleidenschaft gezogen. Und doch — so heftig der Dichter
mit den Ergüssen des an Wahnsinn grenzenden Schmerzes des Volksschullehrers
auf uns eindringt, so erreicht er künstlerisch doch nicht, was ihm in der Schilderung
des Obersten gelingt. Ob Wildenbruch den Charakter des erstern nicht mit der
Sicherheit erfaßt hat wie den des letztern, oder ob er auch hier, wie es leider
sonst seine Manier so oft ist, nur auf den äußern szenischen Effekt hin gearbeitet
hat, jedenfalls ist das Ergebnis dasselbe, und derjenige, der genauer aufmerkt
und nicht bloß mit den äußern Organen der Wahrnehmung, kann sich keineswegs
in harmonischer Stimmung befinden. Der Grund davon liegt darin, daß der
Dichter den richtigen Ton nicht findet, der für die Empfindungen des Alten
hinsichtlich des zu erregenden Mitgefühls zutreffend ist. Wenn man die ein¬
schlagenden Stellen mehrmals und mit Überlegung liest, so kommt es einem
vor, als ob der Dichter selbst das Gefühl hiervon gehabt hätte und bemüht
gewesen wäre, in immer erneuerten Ausbrüchen der Leidenschaft die richtige
Färbung im Ausdruck zu finden. Aber dabei widerfährt es ihm, daß er nicht
sowohl in der Wiederholung dieser Ergüsse, als in ihrer Tongcbung über das
Ziel hinausschießt. Wenn der Dichter im Unterschied vom bildenden Künstler
seine Personen im Schmerze aufschreien lasten darf, so muß er sich doch davor
hüten, von dieser Freiheit zu häusigen Gebrauch zu machen, und vor allem hat
er darauf Bedacht zu nehmen, daß sie sich nicht überschreien. Der Wehruf,
der aus der schmcrzzerrisfenen Brust hervordringt, muß immer ein menschlicher
Laut sein und seinen Wiederhall im Herzen des Hörenden finden, sonst läuft
er Gefahr, das Mitleid zu verfehlen, das er erwecken soll, und vielmehr Anstoß
zu erregen. Hierin, glaube ich, liegt an dieser Stelle der Fehler, der Wilden-
bruch vorgehalten werden muß. Es ist hier ein so starker Antrieb zum Handeln,
als man sich nur denken kann, und man begreift vollkommen, wie der unglück¬
liche Alte zum Vaterlandsverräter wird. Aber wenn die That schon erklärlich
ist, weshalb muß sie von so düstern, blutigen, unartikulirter Lauten begleitet
werden? Der Schmerz treibt den bejammernswerten Vater fast zum Wahnsinn,
aber wenn er schon wahnsinnig wäre, würde der Dichter seine Kunst üben, wenn
er ans der Bühne Worte und Geberden eines seinem Wärter entsprungenen
Tollhäuslers von ihm ausgehen lassen wollte? Man spricht in neuerer Zeit
viel von Realismus und Naturalismus. Ich muß gestehen, daß ich die Kunst,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/488>, abgerufen am 15.01.2025.