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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die dramatische Kunst G. v. Wildenbrnchs.

Gesetz gehandhabt, oder hast du es angewandt im Einklang mit jenen höhern
Geboten, ans denen das weltliche nnr der Ausfluß ist, und deren Geist stets in
der Ausübung dieses sich widerspiegeln muß, wenn anders es zum Heile der
Menschheit und des Staates dienen soll?


Geht nicht von mir,
Ich habe niemanden! Dreitausend Mann
Stehn in der Festung hier -- von diesen allen
Ist keiner, der mich liebt! In ihren Herzen
Grolle die Erinnerung erlittner Strafen.
Ich wollt', ich wär' ein andrer Mann gewesen,
Als ich war.

Mit diesen Worten leitet der Dichter die Erinnerung des Obersten an jenen
frühern Vorgang ein, und nun steht plötzlich das ganze blutige, schreckvolle Bild
desselben vor seinen Angen. Kann die Wirkung noch eine Vermehrung erfahren,
so geschieht es dadurch, daß nun im raschen Zuge der Gedanken das Gedächtnis
des gequälten Mannes von dem Bilde des in seinem Blute erstickten Deserteurs,
der "guter Leute Kind zu sein geschienen hat," auf den eignen Sohn überspringt.
Wo ist sein Sohn? Den ganzen Tag hat er ihn nicht gesehen:


Ich muß ihn sehn, ich muß ihn sprechen hören --
Ich weiß nicht, was mir so das Herz umkrampft.
O diese Todeskrankheit unsers Landes
Verdunkelt nur daS Blut --

So ringt es sich empor aus der umdüstcrten Seele des Gefolterten. Sich selbst
fühlt er schuldig. Ist es ein Wunder, daß er glaubt, der Sohn sei bereits der
Krankheit erlegen, die ihn selbst immer näher und fester umklammert?

Die dritte von den vier Personen, die fast in gleichem Maße den Gang
der Handlung bestimmen, ist der schon mehrfach erwähnte Dorfschullehrer Berg¬
mann. Seit sein ältester Sohn, den er für das Studium bestimmt hatte und
der die Freude und der Trost seines Alters hatte sein sollen, ihm in jener
grausamen Weise entrissen worden ist, ist furchtbarer Haß nicht bloß gegen den
speziellen Urheber seines unsäglichen Schmerzes, sondern gegen das ganze System,
das für den Armen und Niedrigen ein andres Recht hat als für den Reichen
und Vornehmen, in sein sonst so stilles Herz eingezogen und hat nun dort seine
unheimliche Werkstatt. Es ist keine Fiber in ihm. die nicht zuckte in dem heißen
Verlangen nach Rache, kein Gedanke seiner Seele, der darin nicht seinen Anfang,
sein Ende hätte. Jahre sind vergangen, aber unauslöschlich steht vor seiner
Erinnerung das Bild seines unter blutigen Streichen in den Tod sinkenden
Sohnes. Wann wird die Stunde da sein, da er Vergeltung üben kann für
unerhörtes Unrecht? So geht es Jahr für Jahr, Tag um Tag; und nun ist
er gekommen, der so lange und so heiß ersehnte Augenblick. In seinem Hanse
hält der. französische General mit seinen Offizieren Beratung, wie die eng
zernirte Festung zu gewinnen sei. Leicht ist die Gelegenheit gefunden, den


Die dramatische Kunst G. v. Wildenbrnchs.

Gesetz gehandhabt, oder hast du es angewandt im Einklang mit jenen höhern
Geboten, ans denen das weltliche nnr der Ausfluß ist, und deren Geist stets in
der Ausübung dieses sich widerspiegeln muß, wenn anders es zum Heile der
Menschheit und des Staates dienen soll?


Geht nicht von mir,
Ich habe niemanden! Dreitausend Mann
Stehn in der Festung hier — von diesen allen
Ist keiner, der mich liebt! In ihren Herzen
Grolle die Erinnerung erlittner Strafen.
Ich wollt', ich wär' ein andrer Mann gewesen,
Als ich war.

Mit diesen Worten leitet der Dichter die Erinnerung des Obersten an jenen
frühern Vorgang ein, und nun steht plötzlich das ganze blutige, schreckvolle Bild
desselben vor seinen Angen. Kann die Wirkung noch eine Vermehrung erfahren,
so geschieht es dadurch, daß nun im raschen Zuge der Gedanken das Gedächtnis
des gequälten Mannes von dem Bilde des in seinem Blute erstickten Deserteurs,
der „guter Leute Kind zu sein geschienen hat," auf den eignen Sohn überspringt.
Wo ist sein Sohn? Den ganzen Tag hat er ihn nicht gesehen:


Ich muß ihn sehn, ich muß ihn sprechen hören —
Ich weiß nicht, was mir so das Herz umkrampft.
O diese Todeskrankheit unsers Landes
Verdunkelt nur daS Blut —

So ringt es sich empor aus der umdüstcrten Seele des Gefolterten. Sich selbst
fühlt er schuldig. Ist es ein Wunder, daß er glaubt, der Sohn sei bereits der
Krankheit erlegen, die ihn selbst immer näher und fester umklammert?

Die dritte von den vier Personen, die fast in gleichem Maße den Gang
der Handlung bestimmen, ist der schon mehrfach erwähnte Dorfschullehrer Berg¬
mann. Seit sein ältester Sohn, den er für das Studium bestimmt hatte und
der die Freude und der Trost seines Alters hatte sein sollen, ihm in jener
grausamen Weise entrissen worden ist, ist furchtbarer Haß nicht bloß gegen den
speziellen Urheber seines unsäglichen Schmerzes, sondern gegen das ganze System,
das für den Armen und Niedrigen ein andres Recht hat als für den Reichen
und Vornehmen, in sein sonst so stilles Herz eingezogen und hat nun dort seine
unheimliche Werkstatt. Es ist keine Fiber in ihm. die nicht zuckte in dem heißen
Verlangen nach Rache, kein Gedanke seiner Seele, der darin nicht seinen Anfang,
sein Ende hätte. Jahre sind vergangen, aber unauslöschlich steht vor seiner
Erinnerung das Bild seines unter blutigen Streichen in den Tod sinkenden
Sohnes. Wann wird die Stunde da sein, da er Vergeltung üben kann für
unerhörtes Unrecht? So geht es Jahr für Jahr, Tag um Tag; und nun ist
er gekommen, der so lange und so heiß ersehnte Augenblick. In seinem Hanse
hält der. französische General mit seinen Offizieren Beratung, wie die eng
zernirte Festung zu gewinnen sei. Leicht ist die Gelegenheit gefunden, den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/487>, abgerufen am 15.01.2025.