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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die dramatische Annst L. v. Mldenbruchs.

er richtig eil- Werden beschreiben können, an welchem er doch in irgendeiner
Weise selbst teilnimmt? Bis zu einem gewissen Grade hat der Dichter, welcher
historische Vorgänge darstellen will, die Zeit derselben hinter sich zu bringen,
und wie der Wanderer erst von einer gewissen Höhe des Gebirges die Gegend
in ihrer wirklichen Zusammenstellung von Acker und Wiese, von Wald und Flur
vor seinen Augen hat, so wird der poetischen Darstellung die künstlerische Ob¬
jektivität, welche das Korrelat zu den Dingen in ihrem wahrhaften Sinne ist,
in der Regel erst dann gelingen, wenn das individuelle Fühlen und Denken des
Dichters dein unmittelbaren und deshalb verwirrenden Einflüsse der Erschei¬
nungen möglichst entrückt ist. In eine solche Entfernung sind allmählich die
Ereignisse der Befreiungskriege hinausgetreten und bieten ein Bild, in welchem
die Personen und Gegenstände neben-, hinter- und übereinander sich in die
Stellung für den Beobachter geschoben haben, die ihrer wirklichen Bedeutung
entsprechend ist. Anderseits sind sie uns aber auch nicht so fern geworden, daß
sie nnr noch das nationale Interesse Hütten. Die Epoche, in welche der heiße
Kampf um unsre Existenz als Nation fällt, ist diejenige, welche der gegenwär¬
tigen unmittelbar vorhergeht. Die Güter, welche unsre Väter in beispielloser
Anstrengung, unter unsäglichen Leiden, wodurch sie die Sünden der Vergangen¬
heit büßten, erstritten haben, bilden die Basis, auf der wir endlich das Gebäude
aufzubauen beginnen, das der Größe und innern Kraft unsers Volkes ange¬
messen ist. Unzählige Fäden, offene und verborgene, private und öffentliche,
verknüpfen in geradem Zuge unser gegenwärtiges Leben mit dem der Freiheits¬
kämpfer. Das Gewebe, welches wir unter den Händen haben, besteht aus dem
Aufzuge, der uns direkt aus der Vergangenheit zugeführt wird, und dem Ein¬
schlage, den wir in der Gegenwart für die Zukunft in denselben zu machen
haben. So haben wir das denkbar größte Interesse an den Dingen jener Zeit,
und wenn Wildenbruch Stoffe aus ihr entnimmt, in denen Konflikte von er¬
schütternder Wirkung enthalten sind, so darf er nicht sowohl deshalb unsers
Beifalls sicher sein, weil er sie unserm Volksleben überhaupt, als weil er sie
einer Periode desselben entnommen hat, die einmal weit genng abliegt, um uns
ihren Inhalt nach seinem objektiven Werte zu zeigen, und anderseits noch so
nahe ist, daß wir den warmen Pulsschlag der Handelnden in unsern eignen
Adern zu vernehmen glauben.

Es sind also Dinge von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, von denen
bisher die Rede gewesen ist. Einen wesentlichen Reiz erhalten die genannten
Schauspiele aber doch dadurch, daß der Dichter bis auf weniges die Handlung
in ihnen rein aus der Idee gestaltet hat. In der That hat hier seine frei¬
waltende Phantasie Konflikte geschaffen, in denen die ganze Möglichkeit hoch¬
tragischer Vorgänge enthalten ist. Sehen wir zu, wie es Wildenbruch zunächst
in dem Schauspiele "Väter und Söhne" verstanden hat, diese Möglichkeit zu
warmer, lebensvoller Thatsächlichkeit auszugestalten.


Grmzwtm IV. 188S. "0
Die dramatische Annst L. v. Mldenbruchs.

er richtig eil- Werden beschreiben können, an welchem er doch in irgendeiner
Weise selbst teilnimmt? Bis zu einem gewissen Grade hat der Dichter, welcher
historische Vorgänge darstellen will, die Zeit derselben hinter sich zu bringen,
und wie der Wanderer erst von einer gewissen Höhe des Gebirges die Gegend
in ihrer wirklichen Zusammenstellung von Acker und Wiese, von Wald und Flur
vor seinen Augen hat, so wird der poetischen Darstellung die künstlerische Ob¬
jektivität, welche das Korrelat zu den Dingen in ihrem wahrhaften Sinne ist,
in der Regel erst dann gelingen, wenn das individuelle Fühlen und Denken des
Dichters dein unmittelbaren und deshalb verwirrenden Einflüsse der Erschei¬
nungen möglichst entrückt ist. In eine solche Entfernung sind allmählich die
Ereignisse der Befreiungskriege hinausgetreten und bieten ein Bild, in welchem
die Personen und Gegenstände neben-, hinter- und übereinander sich in die
Stellung für den Beobachter geschoben haben, die ihrer wirklichen Bedeutung
entsprechend ist. Anderseits sind sie uns aber auch nicht so fern geworden, daß
sie nnr noch das nationale Interesse Hütten. Die Epoche, in welche der heiße
Kampf um unsre Existenz als Nation fällt, ist diejenige, welche der gegenwär¬
tigen unmittelbar vorhergeht. Die Güter, welche unsre Väter in beispielloser
Anstrengung, unter unsäglichen Leiden, wodurch sie die Sünden der Vergangen¬
heit büßten, erstritten haben, bilden die Basis, auf der wir endlich das Gebäude
aufzubauen beginnen, das der Größe und innern Kraft unsers Volkes ange¬
messen ist. Unzählige Fäden, offene und verborgene, private und öffentliche,
verknüpfen in geradem Zuge unser gegenwärtiges Leben mit dem der Freiheits¬
kämpfer. Das Gewebe, welches wir unter den Händen haben, besteht aus dem
Aufzuge, der uns direkt aus der Vergangenheit zugeführt wird, und dem Ein¬
schlage, den wir in der Gegenwart für die Zukunft in denselben zu machen
haben. So haben wir das denkbar größte Interesse an den Dingen jener Zeit,
und wenn Wildenbruch Stoffe aus ihr entnimmt, in denen Konflikte von er¬
schütternder Wirkung enthalten sind, so darf er nicht sowohl deshalb unsers
Beifalls sicher sein, weil er sie unserm Volksleben überhaupt, als weil er sie
einer Periode desselben entnommen hat, die einmal weit genng abliegt, um uns
ihren Inhalt nach seinem objektiven Werte zu zeigen, und anderseits noch so
nahe ist, daß wir den warmen Pulsschlag der Handelnden in unsern eignen
Adern zu vernehmen glauben.

Es sind also Dinge von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, von denen
bisher die Rede gewesen ist. Einen wesentlichen Reiz erhalten die genannten
Schauspiele aber doch dadurch, daß der Dichter bis auf weniges die Handlung
in ihnen rein aus der Idee gestaltet hat. In der That hat hier seine frei¬
waltende Phantasie Konflikte geschaffen, in denen die ganze Möglichkeit hoch¬
tragischer Vorgänge enthalten ist. Sehen wir zu, wie es Wildenbruch zunächst
in dem Schauspiele „Väter und Söhne" verstanden hat, diese Möglichkeit zu
warmer, lebensvoller Thatsächlichkeit auszugestalten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/481>, abgerufen am 15.01.2025.