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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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ordnung von 1869, noch vom Jnnungsgesetze von 1881, noch überhaupt von
alledem, was wir "gewerbepolitische Tagesfragen" nennen, eine klare Vorstellung;
sie fühlt sich lediglich unbehaglich in ihrer Haut, ist aber des Innungswesens
entwöhnt und hat sogar zum sehr großen Teile nur noch ziemlich verworrene
Erinnerungen an dasselbe. Giebt es doch ganze deutsche Länder, in denen das
Innungswesen so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten ist, und zählte
man doch vor einigen Jahren fünf preußische Regierungsbezirke, in denen sich
nicht eine einzige Innung mehr fand! Unter solchen Umständen ist es eine un¬
billige Zumutung, daß die großenteils so schwachen und abhängigen, dabei
immerhin nach tausend Richtungen hin unter dem Einfluße des "freiheitlichen
Zeitgeistes" stehenden Elemente, aus denen der Stand kleiner Handwerker sich
zusammensetzt, aus sich selbst die moralische Kraft finden sollen, um sich wie
Münchhausen an: eignen Schöpfe ans den: Sumpfe herauszuziehen. Wenn hier
nicht etwas geschieht, was dem kleinsten und kcnntnislosesten Manne zum Be¬
wußtsein kommen muß, was sich seiner sinnlichen Wahrnehmung mit allen
Mitteln des Staats- und Gemeindelebens aufdrängt, so werden wir in alle
Ewigkeit aus diesen Elementen höchstens da, wo ganz besonders günstige Um¬
stände obwalten, ein neues, lebensfähiges Innungswesen emporwachsen sehen.
Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht alle diese schwachen Leute gleichwohl
ganz brauchbare Glieder eines einmal geschlossenen Innungswesens sein können;
im Gegenteil, auch ich bin überzeugt, daß die allermeisten nnter ihnen sich
zu eignem Segen wie zum Segen der Gesamtheit ganz gut einfügen lassen
würden. Wir kommen also hier in Wahrheit auf das seinerzeit vielverspottete Wort
zurück, daß "etwas geschehen muß," nämlich etwas, dessen Kenntnisnahme durch
den kleinste" Mann eine unter allen Umständen gesicherte ist, und dessen absolute
Nützlichkeit schlechterdings jedem begreiflich gemacht werden kann. Daß um
dieses Etwas, aller Sympathien, feurigen Wünsche und leidenschaftlichen Be¬
strebungen unerachtet, die obligatorische Innung nicht sein kann, glaube ich eben
nachgewiesen zu haben. Sollte aber nicht die Durchführung des zum Gesetz
erhobenen Ackermannschen Antrags eine ähnliche Wirkung haben können? Man
sollte es doch wohl denken. Dies ist der Punkt, um deßwillen dieselben trotz
der angedeuteten Bedenken notwendig und durchaus zeitgemäß sind.

Ich kann nicht schließen, ohne auch noch darauf hinzuweisen, daß das ein¬
gangs dargelegte, meiner Überzeugung nach undurchbrechliche Dilemma keines¬
wegs den einzigen Grund ausmacht, weshalb es unmöglich ist, so ohne weiteres
aus unsrer Zeit der Auflösung und Zerrüttung in eine Zeit allenthalben wieder¬
hergestellter fester Ordnungen hineinzuspringen. Es giebt noch eine ganze
Menge technischer Gründe, die kaum von geringerem Gewichte sind. Wer soll,
so lange nicht das Innungswesen aus sich heraus zu einiger Entfaltung gekommen
ist. die mit Einführung der obligatorischen Innung doch unzertrennlich ver¬
bundene scharfe Abgrenzung vornehmen und die Modalitäten des künftigen ge-


ordnung von 1869, noch vom Jnnungsgesetze von 1881, noch überhaupt von
alledem, was wir „gewerbepolitische Tagesfragen" nennen, eine klare Vorstellung;
sie fühlt sich lediglich unbehaglich in ihrer Haut, ist aber des Innungswesens
entwöhnt und hat sogar zum sehr großen Teile nur noch ziemlich verworrene
Erinnerungen an dasselbe. Giebt es doch ganze deutsche Länder, in denen das
Innungswesen so gut wie vollständig in Vergessenheit geraten ist, und zählte
man doch vor einigen Jahren fünf preußische Regierungsbezirke, in denen sich
nicht eine einzige Innung mehr fand! Unter solchen Umständen ist es eine un¬
billige Zumutung, daß die großenteils so schwachen und abhängigen, dabei
immerhin nach tausend Richtungen hin unter dem Einfluße des „freiheitlichen
Zeitgeistes" stehenden Elemente, aus denen der Stand kleiner Handwerker sich
zusammensetzt, aus sich selbst die moralische Kraft finden sollen, um sich wie
Münchhausen an: eignen Schöpfe ans den: Sumpfe herauszuziehen. Wenn hier
nicht etwas geschieht, was dem kleinsten und kcnntnislosesten Manne zum Be¬
wußtsein kommen muß, was sich seiner sinnlichen Wahrnehmung mit allen
Mitteln des Staats- und Gemeindelebens aufdrängt, so werden wir in alle
Ewigkeit aus diesen Elementen höchstens da, wo ganz besonders günstige Um¬
stände obwalten, ein neues, lebensfähiges Innungswesen emporwachsen sehen.
Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht alle diese schwachen Leute gleichwohl
ganz brauchbare Glieder eines einmal geschlossenen Innungswesens sein können;
im Gegenteil, auch ich bin überzeugt, daß die allermeisten nnter ihnen sich
zu eignem Segen wie zum Segen der Gesamtheit ganz gut einfügen lassen
würden. Wir kommen also hier in Wahrheit auf das seinerzeit vielverspottete Wort
zurück, daß „etwas geschehen muß," nämlich etwas, dessen Kenntnisnahme durch
den kleinste» Mann eine unter allen Umständen gesicherte ist, und dessen absolute
Nützlichkeit schlechterdings jedem begreiflich gemacht werden kann. Daß um
dieses Etwas, aller Sympathien, feurigen Wünsche und leidenschaftlichen Be¬
strebungen unerachtet, die obligatorische Innung nicht sein kann, glaube ich eben
nachgewiesen zu haben. Sollte aber nicht die Durchführung des zum Gesetz
erhobenen Ackermannschen Antrags eine ähnliche Wirkung haben können? Man
sollte es doch wohl denken. Dies ist der Punkt, um deßwillen dieselben trotz
der angedeuteten Bedenken notwendig und durchaus zeitgemäß sind.

Ich kann nicht schließen, ohne auch noch darauf hinzuweisen, daß das ein¬
gangs dargelegte, meiner Überzeugung nach undurchbrechliche Dilemma keines¬
wegs den einzigen Grund ausmacht, weshalb es unmöglich ist, so ohne weiteres
aus unsrer Zeit der Auflösung und Zerrüttung in eine Zeit allenthalben wieder¬
hergestellter fester Ordnungen hineinzuspringen. Es giebt noch eine ganze
Menge technischer Gründe, die kaum von geringerem Gewichte sind. Wer soll,
so lange nicht das Innungswesen aus sich heraus zu einiger Entfaltung gekommen
ist. die mit Einführung der obligatorischen Innung doch unzertrennlich ver¬
bundene scharfe Abgrenzung vornehmen und die Modalitäten des künftigen ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/470>, abgerufen am 15.01.2025.