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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Iwan Gontscharow.

nationalen und je weniger poetischen Gehalt ein russisches Werk hat, umso
geringeres Glück wird es in deutscher Übersetzung machen. Um das spezifisch
Russische zu würdigen und zu verstehen genügt nicht mehr -- für das große
Publikum -- die Übertragung belletristischer Werke, hier tritt der Essayist, der
Literatur- und Kulturhistoriker in seine natürlichen Rechte, seine Sache ist es,
das Bedürfnis nach Wissen zu befriedigen. Und hier ist auch die Grenze, welche
der Übersetzungsliteratnr von der Natur der Dinge gestellt ist.

Iwan Gontscharow und ganz besonders sein nunmehr auch deutsch vor¬
liegender Roman Oblvmow*) scheint uns hart an dieser Grenze zu stehen. Er
'se ohne Zweifel ein wahrhaft dichterischer Autor, aber er bleibt in sehr vielen
Beziehungen hinter den bedeutenden russischen Dichtern zurück, die wir bisher
kennen gelernt haben. Ist Turgenjew Meister in der Skizze, in der Kunst, mit
wenigen Strichen Charaktere hinzustellen, und ist es gerade feine geniale Kürze,
welche, obendrein in lyrisch kräftige Stimmung getaucht, die immer neue Dar¬
stellung der Kraftlosigkeit erträglich macht, so ist Gontscharow von einer Um¬
ständlichkeit und Breite in der Schilderung, von einer Peinlichkeit im belanglosen
Detail, die umso unerträglicher wird, als sie die Faulheit, die Thatlosigkcit selbst
zum Gegenstande hat. Ist Dostojewsky erfindungsreich, liebt er Abenteuer und
Verwicklungen, die atemlos festhalten, ist er reich an Ideen der verschiedensten
Gedankenkreise, religiöser, sozialer, politischer Art, so ist Gontscharow arm in
der Handlung, hält, seinem Kunstprinzip gemäß, fest an der Stange und bewegt
sich die ganze Geschichte hindurch immer in demselben Kreise. Und mit der
liebenswürdigen Schwärmerei Tolstois, dessen sonnige Phantasie ein Verlornes
Paradies, Natur genannt, wieder sucht, hält der Satiriker und der sein Volk
streng zur Arbeit mahnende Gontscharow ebensowenig den Vergleich aus.

Auch ein zweites seiner wenigen Werke liegt in deutscher Übersetzung vor: Eine
alltägliche Geschichte^), und da sehen wir, daß sich auch seine Phantasie
immer in demselben Kreise von Charakteren und in demselben poetischen Kontraste
bewegt: dem Gegensatze zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen dem be¬
wegten, anspruchsvollen Leben der Großstadt Petersburg und dem Leben der
im alten, trägen Geleise dahinvegetirenden Provinz, zwischen modernem Realismus
und überlebter romantischer Schwärmerei, zwischen Thatkraft und Schwäche,
Lebenslust und Weltschmerz. Dabei steht die Sympathie des Dichters auf
Seiten der Modernen. So merkwürdig auch seine künstlerische Objektivität ist,
seine Tendenz ist, zu zeigen, daß die alte Zeit unterzugehen verdient, daß sie




Oblomvw. Roman von I. A. Gontscharow. Aus dem Russischen von Gustav
Keuchcl. Mit einem Vorworte von Eugen Zabel. Zwei Teile in einem Bande. Berlin,
Dcubner, 1835. sWimmelt von Druckfehler" und stilistische" Nachlässigkeiten.)
Eine alltägliche Geschichte. Roman von Iwan Gontscharow. Aus dem
Russischen sganz vortrefflich) übersetzt von Helene von Exe. Mit einer Einleitung von
Wilhelm Heuckcl. Stuttgart, Kollektion Spemann.
Grenzboten IV. 1885. 54
Iwan Gontscharow.

nationalen und je weniger poetischen Gehalt ein russisches Werk hat, umso
geringeres Glück wird es in deutscher Übersetzung machen. Um das spezifisch
Russische zu würdigen und zu verstehen genügt nicht mehr — für das große
Publikum — die Übertragung belletristischer Werke, hier tritt der Essayist, der
Literatur- und Kulturhistoriker in seine natürlichen Rechte, seine Sache ist es,
das Bedürfnis nach Wissen zu befriedigen. Und hier ist auch die Grenze, welche
der Übersetzungsliteratnr von der Natur der Dinge gestellt ist.

Iwan Gontscharow und ganz besonders sein nunmehr auch deutsch vor¬
liegender Roman Oblvmow*) scheint uns hart an dieser Grenze zu stehen. Er
'se ohne Zweifel ein wahrhaft dichterischer Autor, aber er bleibt in sehr vielen
Beziehungen hinter den bedeutenden russischen Dichtern zurück, die wir bisher
kennen gelernt haben. Ist Turgenjew Meister in der Skizze, in der Kunst, mit
wenigen Strichen Charaktere hinzustellen, und ist es gerade feine geniale Kürze,
welche, obendrein in lyrisch kräftige Stimmung getaucht, die immer neue Dar¬
stellung der Kraftlosigkeit erträglich macht, so ist Gontscharow von einer Um¬
ständlichkeit und Breite in der Schilderung, von einer Peinlichkeit im belanglosen
Detail, die umso unerträglicher wird, als sie die Faulheit, die Thatlosigkcit selbst
zum Gegenstande hat. Ist Dostojewsky erfindungsreich, liebt er Abenteuer und
Verwicklungen, die atemlos festhalten, ist er reich an Ideen der verschiedensten
Gedankenkreise, religiöser, sozialer, politischer Art, so ist Gontscharow arm in
der Handlung, hält, seinem Kunstprinzip gemäß, fest an der Stange und bewegt
sich die ganze Geschichte hindurch immer in demselben Kreise. Und mit der
liebenswürdigen Schwärmerei Tolstois, dessen sonnige Phantasie ein Verlornes
Paradies, Natur genannt, wieder sucht, hält der Satiriker und der sein Volk
streng zur Arbeit mahnende Gontscharow ebensowenig den Vergleich aus.

Auch ein zweites seiner wenigen Werke liegt in deutscher Übersetzung vor: Eine
alltägliche Geschichte^), und da sehen wir, daß sich auch seine Phantasie
immer in demselben Kreise von Charakteren und in demselben poetischen Kontraste
bewegt: dem Gegensatze zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen dem be¬
wegten, anspruchsvollen Leben der Großstadt Petersburg und dem Leben der
im alten, trägen Geleise dahinvegetirenden Provinz, zwischen modernem Realismus
und überlebter romantischer Schwärmerei, zwischen Thatkraft und Schwäche,
Lebenslust und Weltschmerz. Dabei steht die Sympathie des Dichters auf
Seiten der Modernen. So merkwürdig auch seine künstlerische Objektivität ist,
seine Tendenz ist, zu zeigen, daß die alte Zeit unterzugehen verdient, daß sie




Oblomvw. Roman von I. A. Gontscharow. Aus dem Russischen von Gustav
Keuchcl. Mit einem Vorworte von Eugen Zabel. Zwei Teile in einem Bande. Berlin,
Dcubner, 1835. sWimmelt von Druckfehler» und stilistische» Nachlässigkeiten.)
Eine alltägliche Geschichte. Roman von Iwan Gontscharow. Aus dem
Russischen sganz vortrefflich) übersetzt von Helene von Exe. Mit einer Einleitung von
Wilhelm Heuckcl. Stuttgart, Kollektion Spemann.
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[0433] Iwan Gontscharow. nationalen und je weniger poetischen Gehalt ein russisches Werk hat, umso geringeres Glück wird es in deutscher Übersetzung machen. Um das spezifisch Russische zu würdigen und zu verstehen genügt nicht mehr — für das große Publikum — die Übertragung belletristischer Werke, hier tritt der Essayist, der Literatur- und Kulturhistoriker in seine natürlichen Rechte, seine Sache ist es, das Bedürfnis nach Wissen zu befriedigen. Und hier ist auch die Grenze, welche der Übersetzungsliteratnr von der Natur der Dinge gestellt ist. Iwan Gontscharow und ganz besonders sein nunmehr auch deutsch vor¬ liegender Roman Oblvmow*) scheint uns hart an dieser Grenze zu stehen. Er 'se ohne Zweifel ein wahrhaft dichterischer Autor, aber er bleibt in sehr vielen Beziehungen hinter den bedeutenden russischen Dichtern zurück, die wir bisher kennen gelernt haben. Ist Turgenjew Meister in der Skizze, in der Kunst, mit wenigen Strichen Charaktere hinzustellen, und ist es gerade feine geniale Kürze, welche, obendrein in lyrisch kräftige Stimmung getaucht, die immer neue Dar¬ stellung der Kraftlosigkeit erträglich macht, so ist Gontscharow von einer Um¬ ständlichkeit und Breite in der Schilderung, von einer Peinlichkeit im belanglosen Detail, die umso unerträglicher wird, als sie die Faulheit, die Thatlosigkcit selbst zum Gegenstande hat. Ist Dostojewsky erfindungsreich, liebt er Abenteuer und Verwicklungen, die atemlos festhalten, ist er reich an Ideen der verschiedensten Gedankenkreise, religiöser, sozialer, politischer Art, so ist Gontscharow arm in der Handlung, hält, seinem Kunstprinzip gemäß, fest an der Stange und bewegt sich die ganze Geschichte hindurch immer in demselben Kreise. Und mit der liebenswürdigen Schwärmerei Tolstois, dessen sonnige Phantasie ein Verlornes Paradies, Natur genannt, wieder sucht, hält der Satiriker und der sein Volk streng zur Arbeit mahnende Gontscharow ebensowenig den Vergleich aus. Auch ein zweites seiner wenigen Werke liegt in deutscher Übersetzung vor: Eine alltägliche Geschichte^), und da sehen wir, daß sich auch seine Phantasie immer in demselben Kreise von Charakteren und in demselben poetischen Kontraste bewegt: dem Gegensatze zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen dem be¬ wegten, anspruchsvollen Leben der Großstadt Petersburg und dem Leben der im alten, trägen Geleise dahinvegetirenden Provinz, zwischen modernem Realismus und überlebter romantischer Schwärmerei, zwischen Thatkraft und Schwäche, Lebenslust und Weltschmerz. Dabei steht die Sympathie des Dichters auf Seiten der Modernen. So merkwürdig auch seine künstlerische Objektivität ist, seine Tendenz ist, zu zeigen, daß die alte Zeit unterzugehen verdient, daß sie Oblomvw. Roman von I. A. Gontscharow. Aus dem Russischen von Gustav Keuchcl. Mit einem Vorworte von Eugen Zabel. Zwei Teile in einem Bande. Berlin, Dcubner, 1835. sWimmelt von Druckfehler» und stilistische» Nachlässigkeiten.) Eine alltägliche Geschichte. Roman von Iwan Gontscharow. Aus dem Russischen sganz vortrefflich) übersetzt von Helene von Exe. Mit einer Einleitung von Wilhelm Heuckcl. Stuttgart, Kollektion Spemann. Grenzboten IV. 1885. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/433>, abgerufen am 15.01.2025.