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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Berlin, wie es wächst und verschlingt.

weiter nördlich Weißensee lagen sehr, sehr im Hintergrunde. Nach Norden end¬
lich bildete eine Linie die Grenze, welche von dem alten Moabiter Zellengefängnis
aus an dem Endpunkte der Friedrichstraße vorüber ziemlich gleichmäßig in west¬
östlicher Richtung verlief. Darüber hinaus begann sich allerdings auf dem Ge¬
biete des alten "Wedding" und des früher sogenannten Vogtlandes ein zusammen¬
hängendes Straßennetz zu entwickeln, aber von einer Anerkennung desselben als
gleichberechtigten Stadtteils war man doch noch sehr weit entfernt, und weite,
wüste Strecken -- von denen ein Teil später als "Humboldtshain" angelegt
wurde -- dehnten sich dazwischen aus. Denn kam ein wenig bewohntes Gebiet,
jenseits dessen der Gesundbrunnen, das freundliche Städtchen Pankow und andre
Ortschaften lagen; daß anch dies noch dem lebenden Geschlechte als werdender
Stadtteil erscheinen sollte, würde sicherlich noch vor zwanzig Jahren als eine
ganz tolle Phantasie betrachtet worden sein. Suchen wir nun zu einem Resultate
darüber zu kommen, wo überhaupt Raum zu baulicher Entwicklung vorhanden
war. Im Norden war dies im ausgedehntesten, unbeschränktesten Maße der
Fall; stand doch das ganze ungeheure Gebiet von der Juugfernhaide bis Heiners¬
dorf, mehr als eine Meile breit, zur Verfügung, soweit nicht die vergleichsweise
unbedeutenden vorgenannten Ortschaften, sowie die schon bebauten Teile des
Weddings dasselbe vorweggenommen hatten. Im Osten war gleichfalls eine
fast beliebige Entwicklung möglich, zumal im Nordosten; weiter südlich stand
der Friedrichshain im Wege und östlich davon war für verschiedne Zwecke
schon sehr viel Terrain vergriffen, wie denn inzwischen in dieser Gegend der
kolossale neue Viehhof angelegt worden ist. Im Südosten, die Spree aufwärts,
war wenig Raum, da die Stadt das meiste auf dem linken Spreeufer verfüg¬
bare Terrain zu deu seitdem hergestellten herrlichen Parkanlagen in Anspruch
nahm und links Rummelsburg, Stralau und der Rummelsburger See nicht viel
übrig ließen; aber unmittelbar anstoßend, gegen die Hasenhaide und weiterhin
gegen Rixdorf hin, gab es geeigneten Boden in großer Menge, ebenso im eigent¬
lichen Süden, zwischen dem Landwehrkanal und dem Tempelhofer Felde. Im
Westen wieder stand der Tiergarten ini Wege; doch blieb nördlich und südlich
davon ein ziemlicher Spielraum. Nördlich, jenseits der Spree, lag Moabit,
der Stadt zunächst Alt-, mehr nach Westen gegen Charlottenburg zu Neu-
Moabit; da war die Entwicklungsfähigkeit auch so gut wie unbegrenzt, da sie
gewissermaßen nur an der nördlich anstoßenden Jungfernhaide eine Schranke
fand. Südlich, d. h. also südwestlich, schloß sich an Berlin das reiche, stattliche
Dorf Schöneberg, weiterhin kam Steglitz, dann Lichtcrfelde, hieran nördlich an¬
stoßend gab es da noch die Ortschaften Wilmersdorf und Schmargendorf; damit
war der Raum zwischen dem Tiergarten, dem Grünewald und der Potsdamer
Bahn ausgefüllt. An das schwer zugängliche Terrain jenseits der Potsdamer
Bahn, gegen die Ortschaften Lankivitz, Mariendorf und Tempelhof zu, dachte
damals noch kein Mensch.


Berlin, wie es wächst und verschlingt.

weiter nördlich Weißensee lagen sehr, sehr im Hintergrunde. Nach Norden end¬
lich bildete eine Linie die Grenze, welche von dem alten Moabiter Zellengefängnis
aus an dem Endpunkte der Friedrichstraße vorüber ziemlich gleichmäßig in west¬
östlicher Richtung verlief. Darüber hinaus begann sich allerdings auf dem Ge¬
biete des alten „Wedding" und des früher sogenannten Vogtlandes ein zusammen¬
hängendes Straßennetz zu entwickeln, aber von einer Anerkennung desselben als
gleichberechtigten Stadtteils war man doch noch sehr weit entfernt, und weite,
wüste Strecken — von denen ein Teil später als „Humboldtshain" angelegt
wurde — dehnten sich dazwischen aus. Denn kam ein wenig bewohntes Gebiet,
jenseits dessen der Gesundbrunnen, das freundliche Städtchen Pankow und andre
Ortschaften lagen; daß anch dies noch dem lebenden Geschlechte als werdender
Stadtteil erscheinen sollte, würde sicherlich noch vor zwanzig Jahren als eine
ganz tolle Phantasie betrachtet worden sein. Suchen wir nun zu einem Resultate
darüber zu kommen, wo überhaupt Raum zu baulicher Entwicklung vorhanden
war. Im Norden war dies im ausgedehntesten, unbeschränktesten Maße der
Fall; stand doch das ganze ungeheure Gebiet von der Juugfernhaide bis Heiners¬
dorf, mehr als eine Meile breit, zur Verfügung, soweit nicht die vergleichsweise
unbedeutenden vorgenannten Ortschaften, sowie die schon bebauten Teile des
Weddings dasselbe vorweggenommen hatten. Im Osten war gleichfalls eine
fast beliebige Entwicklung möglich, zumal im Nordosten; weiter südlich stand
der Friedrichshain im Wege und östlich davon war für verschiedne Zwecke
schon sehr viel Terrain vergriffen, wie denn inzwischen in dieser Gegend der
kolossale neue Viehhof angelegt worden ist. Im Südosten, die Spree aufwärts,
war wenig Raum, da die Stadt das meiste auf dem linken Spreeufer verfüg¬
bare Terrain zu deu seitdem hergestellten herrlichen Parkanlagen in Anspruch
nahm und links Rummelsburg, Stralau und der Rummelsburger See nicht viel
übrig ließen; aber unmittelbar anstoßend, gegen die Hasenhaide und weiterhin
gegen Rixdorf hin, gab es geeigneten Boden in großer Menge, ebenso im eigent¬
lichen Süden, zwischen dem Landwehrkanal und dem Tempelhofer Felde. Im
Westen wieder stand der Tiergarten ini Wege; doch blieb nördlich und südlich
davon ein ziemlicher Spielraum. Nördlich, jenseits der Spree, lag Moabit,
der Stadt zunächst Alt-, mehr nach Westen gegen Charlottenburg zu Neu-
Moabit; da war die Entwicklungsfähigkeit auch so gut wie unbegrenzt, da sie
gewissermaßen nur an der nördlich anstoßenden Jungfernhaide eine Schranke
fand. Südlich, d. h. also südwestlich, schloß sich an Berlin das reiche, stattliche
Dorf Schöneberg, weiterhin kam Steglitz, dann Lichtcrfelde, hieran nördlich an¬
stoßend gab es da noch die Ortschaften Wilmersdorf und Schmargendorf; damit
war der Raum zwischen dem Tiergarten, dem Grünewald und der Potsdamer
Bahn ausgefüllt. An das schwer zugängliche Terrain jenseits der Potsdamer
Bahn, gegen die Ortschaften Lankivitz, Mariendorf und Tempelhof zu, dachte
damals noch kein Mensch.


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[0422] Berlin, wie es wächst und verschlingt. weiter nördlich Weißensee lagen sehr, sehr im Hintergrunde. Nach Norden end¬ lich bildete eine Linie die Grenze, welche von dem alten Moabiter Zellengefängnis aus an dem Endpunkte der Friedrichstraße vorüber ziemlich gleichmäßig in west¬ östlicher Richtung verlief. Darüber hinaus begann sich allerdings auf dem Ge¬ biete des alten „Wedding" und des früher sogenannten Vogtlandes ein zusammen¬ hängendes Straßennetz zu entwickeln, aber von einer Anerkennung desselben als gleichberechtigten Stadtteils war man doch noch sehr weit entfernt, und weite, wüste Strecken — von denen ein Teil später als „Humboldtshain" angelegt wurde — dehnten sich dazwischen aus. Denn kam ein wenig bewohntes Gebiet, jenseits dessen der Gesundbrunnen, das freundliche Städtchen Pankow und andre Ortschaften lagen; daß anch dies noch dem lebenden Geschlechte als werdender Stadtteil erscheinen sollte, würde sicherlich noch vor zwanzig Jahren als eine ganz tolle Phantasie betrachtet worden sein. Suchen wir nun zu einem Resultate darüber zu kommen, wo überhaupt Raum zu baulicher Entwicklung vorhanden war. Im Norden war dies im ausgedehntesten, unbeschränktesten Maße der Fall; stand doch das ganze ungeheure Gebiet von der Juugfernhaide bis Heiners¬ dorf, mehr als eine Meile breit, zur Verfügung, soweit nicht die vergleichsweise unbedeutenden vorgenannten Ortschaften, sowie die schon bebauten Teile des Weddings dasselbe vorweggenommen hatten. Im Osten war gleichfalls eine fast beliebige Entwicklung möglich, zumal im Nordosten; weiter südlich stand der Friedrichshain im Wege und östlich davon war für verschiedne Zwecke schon sehr viel Terrain vergriffen, wie denn inzwischen in dieser Gegend der kolossale neue Viehhof angelegt worden ist. Im Südosten, die Spree aufwärts, war wenig Raum, da die Stadt das meiste auf dem linken Spreeufer verfüg¬ bare Terrain zu deu seitdem hergestellten herrlichen Parkanlagen in Anspruch nahm und links Rummelsburg, Stralau und der Rummelsburger See nicht viel übrig ließen; aber unmittelbar anstoßend, gegen die Hasenhaide und weiterhin gegen Rixdorf hin, gab es geeigneten Boden in großer Menge, ebenso im eigent¬ lichen Süden, zwischen dem Landwehrkanal und dem Tempelhofer Felde. Im Westen wieder stand der Tiergarten ini Wege; doch blieb nördlich und südlich davon ein ziemlicher Spielraum. Nördlich, jenseits der Spree, lag Moabit, der Stadt zunächst Alt-, mehr nach Westen gegen Charlottenburg zu Neu- Moabit; da war die Entwicklungsfähigkeit auch so gut wie unbegrenzt, da sie gewissermaßen nur an der nördlich anstoßenden Jungfernhaide eine Schranke fand. Südlich, d. h. also südwestlich, schloß sich an Berlin das reiche, stattliche Dorf Schöneberg, weiterhin kam Steglitz, dann Lichtcrfelde, hieran nördlich an¬ stoßend gab es da noch die Ortschaften Wilmersdorf und Schmargendorf; damit war der Raum zwischen dem Tiergarten, dem Grünewald und der Potsdamer Bahn ausgefüllt. An das schwer zugängliche Terrain jenseits der Potsdamer Bahn, gegen die Ortschaften Lankivitz, Mariendorf und Tempelhof zu, dachte damals noch kein Mensch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/422>, abgerufen am 15.01.2025.