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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Anarchisten und ihre Begünstiger.

le preußische Regierung hat beim Bundesrate einen Antrag auf
Abänderung des § 22 des Neichsprcßgesetzes vom 7. Mai 1874
eingebracht, welcher bezweckt, die in diesem Paragraphen ange¬
ordnete sechsmonatliche Verjährungsfrist für diejenigen Verbrechen
und Vergehen, welche durch die Verbreitung von Druckschriften
strafbaren Inhalts begangen werden, für die Fälle zu verlängern, wenn der
Thäter unbekannt ist oder sich außerhalb der deutschen Gerichtsgewalt befindet.
Die Veranlassung zu diesem Antrage gab ein durch die bestehende Gesetzgebung
gebotener Beschluß des Reichsgerichts vom 15. Dezember 1883. In diesem
Jahre wurde eines der thätigsten Mitglieder der Londoner Anarchistenpartei
verhaftet und beim Reichsgericht in Voruntersuchung gezogen. Der Angeschul¬
digte war Mitglied der Redaktionskommission der in London erscheinenden
"Freiheit" und hatte insbesondre die Versendung der berüchtigte" roren Mürz-
nummern des Jahres 1882 als Expedient besorgt. Das Reichsgericht fand in
diesen Nummern die Aufforderung zur Ermordung des Kaisers und zur Tötung
der deutschen Bundesfürsten, sowie zur gewaltsamen Änderung der deutschen
Staatsverfassungen, erklärte sich aber außer stände, wegen dieser Verbrechen
das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten zu eröffnen, weil diesem die sechs¬
monatliche Verjährung des Preßgefetzes zu statten komme, welche schon abge¬
laufen war, bevor sich der Angeschuldigte nach dem Kontinent begeben hatte.
Dieser skandalöse Rechtszustand veranlaßte den Obcrreichscmwalt, beim Reichs¬
kanzler eine Änderung des Preßgesetzes in Antrag zu bringen, und die Motive
zu dem jetzt aufgestellten Gesetzentwurfe nehmen auf diesen Vorgang Bezug.
Das Gesetz, sagen sie, gewähre einem Schuldigen, welcher seine Person oder


Grenzboten IV. 1885. 52


Die Anarchisten und ihre Begünstiger.

le preußische Regierung hat beim Bundesrate einen Antrag auf
Abänderung des § 22 des Neichsprcßgesetzes vom 7. Mai 1874
eingebracht, welcher bezweckt, die in diesem Paragraphen ange¬
ordnete sechsmonatliche Verjährungsfrist für diejenigen Verbrechen
und Vergehen, welche durch die Verbreitung von Druckschriften
strafbaren Inhalts begangen werden, für die Fälle zu verlängern, wenn der
Thäter unbekannt ist oder sich außerhalb der deutschen Gerichtsgewalt befindet.
Die Veranlassung zu diesem Antrage gab ein durch die bestehende Gesetzgebung
gebotener Beschluß des Reichsgerichts vom 15. Dezember 1883. In diesem
Jahre wurde eines der thätigsten Mitglieder der Londoner Anarchistenpartei
verhaftet und beim Reichsgericht in Voruntersuchung gezogen. Der Angeschul¬
digte war Mitglied der Redaktionskommission der in London erscheinenden
„Freiheit" und hatte insbesondre die Versendung der berüchtigte» roren Mürz-
nummern des Jahres 1882 als Expedient besorgt. Das Reichsgericht fand in
diesen Nummern die Aufforderung zur Ermordung des Kaisers und zur Tötung
der deutschen Bundesfürsten, sowie zur gewaltsamen Änderung der deutschen
Staatsverfassungen, erklärte sich aber außer stände, wegen dieser Verbrechen
das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten zu eröffnen, weil diesem die sechs¬
monatliche Verjährung des Preßgefetzes zu statten komme, welche schon abge¬
laufen war, bevor sich der Angeschuldigte nach dem Kontinent begeben hatte.
Dieser skandalöse Rechtszustand veranlaßte den Obcrreichscmwalt, beim Reichs¬
kanzler eine Änderung des Preßgesetzes in Antrag zu bringen, und die Motive
zu dem jetzt aufgestellten Gesetzentwurfe nehmen auf diesen Vorgang Bezug.
Das Gesetz, sagen sie, gewähre einem Schuldigen, welcher seine Person oder


Grenzboten IV. 1885. 52
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[0417] [Abbildung] Die Anarchisten und ihre Begünstiger. le preußische Regierung hat beim Bundesrate einen Antrag auf Abänderung des § 22 des Neichsprcßgesetzes vom 7. Mai 1874 eingebracht, welcher bezweckt, die in diesem Paragraphen ange¬ ordnete sechsmonatliche Verjährungsfrist für diejenigen Verbrechen und Vergehen, welche durch die Verbreitung von Druckschriften strafbaren Inhalts begangen werden, für die Fälle zu verlängern, wenn der Thäter unbekannt ist oder sich außerhalb der deutschen Gerichtsgewalt befindet. Die Veranlassung zu diesem Antrage gab ein durch die bestehende Gesetzgebung gebotener Beschluß des Reichsgerichts vom 15. Dezember 1883. In diesem Jahre wurde eines der thätigsten Mitglieder der Londoner Anarchistenpartei verhaftet und beim Reichsgericht in Voruntersuchung gezogen. Der Angeschul¬ digte war Mitglied der Redaktionskommission der in London erscheinenden „Freiheit" und hatte insbesondre die Versendung der berüchtigte» roren Mürz- nummern des Jahres 1882 als Expedient besorgt. Das Reichsgericht fand in diesen Nummern die Aufforderung zur Ermordung des Kaisers und zur Tötung der deutschen Bundesfürsten, sowie zur gewaltsamen Änderung der deutschen Staatsverfassungen, erklärte sich aber außer stände, wegen dieser Verbrechen das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten zu eröffnen, weil diesem die sechs¬ monatliche Verjährung des Preßgefetzes zu statten komme, welche schon abge¬ laufen war, bevor sich der Angeschuldigte nach dem Kontinent begeben hatte. Dieser skandalöse Rechtszustand veranlaßte den Obcrreichscmwalt, beim Reichs¬ kanzler eine Änderung des Preßgesetzes in Antrag zu bringen, und die Motive zu dem jetzt aufgestellten Gesetzentwurfe nehmen auf diesen Vorgang Bezug. Das Gesetz, sagen sie, gewähre einem Schuldigen, welcher seine Person oder Grenzboten IV. 1885. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/417>, abgerufen am 15.01.2025.