Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. Am andern Morgen war Edles sanft entschlafen. Für Harald bedeutete So war Harald wieder allein wie früher, aber doch in andrer Art. In Er konnte seine Wohnung, in deren Ode er immer an das, was er ver¬ Auf dem Stilfser Joch. Am andern Morgen war Edles sanft entschlafen. Für Harald bedeutete So war Harald wieder allein wie früher, aber doch in andrer Art. In Er konnte seine Wohnung, in deren Ode er immer an das, was er ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197134"/> <fw type="header" place="top"> Auf dem Stilfser Joch.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1280"> Am andern Morgen war Edles sanft entschlafen. Für Harald bedeutete<lb/> dieser Tod mehr, als man erwarten konnte; er schloß gleichzeitig die Auflösung<lb/> seiner bisherigen häuslichen Gemeinschaft in sich. Axel hatte zu Ostern am<lb/> Gymnasium seine Abgangsprüfung bestanden und zum Studium der Natur¬<lb/> wissenschaften die Universität Heidelberg bezogen. Tante Atome vermochte nicht<lb/> länger in dem einsamen und verödeten Hause zu bleiben. Ans ihre besondern Bitten<lb/> schickte sie Harald in das alte schlesische Heimatsstädtchen zurück, in welchem sie<lb/> ihre letzten Tage in Trauer um die Dahingeschiedne und im stillen Gebet für<lb/> die Überlebenden beschließen wollte. Die jüngste Vergangenheit hatte aus der<lb/> rüstigen alten Frau eine hinfällige Greisin gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1281"> So war Harald wieder allein wie früher, aber doch in andrer Art. In<lb/> der ersten Zeit des Zusammenlebens mit seinen Geschwistern hatte er sich nicht<lb/> selten beengt gefühlt und innerlich den Verlust seiner Freiheit oft schwer em¬<lb/> pfunden; er hatte in verhältnismäßig jungen Jahren alle Pflichten und Lasten<lb/> eines Familienhauptes übernommen, ohne derjenigen Freuden teilhaftig zu werden,<lb/> welche naturgemäß mir für den Gatten und Vater sich entwickeln können. Seiner<lb/> harmonischen Natur fehlte nach jeder Richtung die befriedigende Ergänzung,<lb/> als Unverheirateter fehlte es ihm an der rechten Freiheit, als Familienhaupt an<lb/> den Freuden des eignen Herdes. Jetzt war er wieder frei geworden, aber da er<lb/> die Freiheit wieder erlangt hatte, schien sie ihm nicht mehr von Wert zu sein.<lb/> Nicht etwa als ob nur derjenige die Freiheit würdigen könnte, dem sie bestritten<lb/> wird und der um sie ringen muß, sondern weil in den Jahren seiner mühe¬<lb/> vollen Abhängigkeit, in jenem entsagungsvollen Kampfe ums Dasein ihm ein<lb/> gut Stück seiner Lebensenergie geschwunden war, und weil er nur zu schmerzlich<lb/> daran denken konnte, daß der Preis, um welchen er frei geworden war, in<lb/> dem Leben der teuern Schwester bestand, deren treue und hingebungsvolle Liebe<lb/> für immer dahin war, eine Liebe, die mit der irdischen nur die äußere Form<lb/> gemeinsam hatte, im übrigen aber durch ihre Entsagung und Opferfreudigkeit<lb/> der göttlichen glich.</p><lb/> <p xml:id="ID_1282"> Er konnte seine Wohnung, in deren Ode er immer an das, was er ver¬<lb/> loren hatte, erinnert wurde, an einen Freund abtreten und sich selbst ein Atelier<lb/> in einem stillen Hause der neu entstandnen Händelstraße einrichten. Wenn er<lb/> auch immer noch nicht die nötige Muße zur Arbeit finden konnte, so that ihm<lb/> doch die Ruhe inmitten des ringserblühenden Frühlings wohl, und es war ein<lb/> Friede in seine Seele gekehrt, der ihn zwar nicht mit Behaglichkeit erfüllte,<lb/> aber doch in eine sanfte, getragne Stimmung versetzte — es war eine Stille,<lb/> aber nicht nach glücklicher Fahrt, sondern eine solche, wie sie nach dem Meer-<lb/> stnrm eintritt und bei welcher der Mensch die erlangte Ruhe nich lohne die nach¬<lb/> haltige Erinnerung an die schwere Vergangenheit genießt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0400]
Auf dem Stilfser Joch.
Am andern Morgen war Edles sanft entschlafen. Für Harald bedeutete
dieser Tod mehr, als man erwarten konnte; er schloß gleichzeitig die Auflösung
seiner bisherigen häuslichen Gemeinschaft in sich. Axel hatte zu Ostern am
Gymnasium seine Abgangsprüfung bestanden und zum Studium der Natur¬
wissenschaften die Universität Heidelberg bezogen. Tante Atome vermochte nicht
länger in dem einsamen und verödeten Hause zu bleiben. Ans ihre besondern Bitten
schickte sie Harald in das alte schlesische Heimatsstädtchen zurück, in welchem sie
ihre letzten Tage in Trauer um die Dahingeschiedne und im stillen Gebet für
die Überlebenden beschließen wollte. Die jüngste Vergangenheit hatte aus der
rüstigen alten Frau eine hinfällige Greisin gemacht.
So war Harald wieder allein wie früher, aber doch in andrer Art. In
der ersten Zeit des Zusammenlebens mit seinen Geschwistern hatte er sich nicht
selten beengt gefühlt und innerlich den Verlust seiner Freiheit oft schwer em¬
pfunden; er hatte in verhältnismäßig jungen Jahren alle Pflichten und Lasten
eines Familienhauptes übernommen, ohne derjenigen Freuden teilhaftig zu werden,
welche naturgemäß mir für den Gatten und Vater sich entwickeln können. Seiner
harmonischen Natur fehlte nach jeder Richtung die befriedigende Ergänzung,
als Unverheirateter fehlte es ihm an der rechten Freiheit, als Familienhaupt an
den Freuden des eignen Herdes. Jetzt war er wieder frei geworden, aber da er
die Freiheit wieder erlangt hatte, schien sie ihm nicht mehr von Wert zu sein.
Nicht etwa als ob nur derjenige die Freiheit würdigen könnte, dem sie bestritten
wird und der um sie ringen muß, sondern weil in den Jahren seiner mühe¬
vollen Abhängigkeit, in jenem entsagungsvollen Kampfe ums Dasein ihm ein
gut Stück seiner Lebensenergie geschwunden war, und weil er nur zu schmerzlich
daran denken konnte, daß der Preis, um welchen er frei geworden war, in
dem Leben der teuern Schwester bestand, deren treue und hingebungsvolle Liebe
für immer dahin war, eine Liebe, die mit der irdischen nur die äußere Form
gemeinsam hatte, im übrigen aber durch ihre Entsagung und Opferfreudigkeit
der göttlichen glich.
Er konnte seine Wohnung, in deren Ode er immer an das, was er ver¬
loren hatte, erinnert wurde, an einen Freund abtreten und sich selbst ein Atelier
in einem stillen Hause der neu entstandnen Händelstraße einrichten. Wenn er
auch immer noch nicht die nötige Muße zur Arbeit finden konnte, so that ihm
doch die Ruhe inmitten des ringserblühenden Frühlings wohl, und es war ein
Friede in seine Seele gekehrt, der ihn zwar nicht mit Behaglichkeit erfüllte,
aber doch in eine sanfte, getragne Stimmung versetzte — es war eine Stille,
aber nicht nach glücklicher Fahrt, sondern eine solche, wie sie nach dem Meer-
stnrm eintritt und bei welcher der Mensch die erlangte Ruhe nich lohne die nach¬
haltige Erinnerung an die schwere Vergangenheit genießt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |