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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.

Herzenstöne vermissen, die uoch in "Quisiscma" so tief ergreifend erklangen? Was
hat der vornehm-kühle und glatte Ton, der unnachahmlich meisterhafte, trotz
cillcdem, was hat er denn, das nicht durch den lebendigen Odem des "Hammer
und Amboß," durch die gehaltene blutvolle Kraft der "Sturmflut" ersetzt und
mehr als ersetzt würde? Sollen wir denn durchaus auf diese verzichten? Und
für immer?




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
12. Seeschlange Nummer zwei.

es darf wohl nicht voraussetzen, daß man sich noch vom Jahre 1881
her (Grenzboten II, S. 461) eines gewissen Gustav Schwamm, "Ins
Zeidler, ^uäh Neumann erinnere. Ich würde mich dieses hoffnungs¬
vollen Galgenstrickes selbst nicht mehr entsinnen, wenn ich ihn nicht
kürzlich wieder in die Hände bekommen hätte, oder vielmehr ein dickes
Aktenstück, zu dem er Veranlassung gegeben hat. Da die Fabel, welche
mit Fug und Recht den Titel Seeschlange Nummer zwei'^) trägt, ziemlich lehrreich
ist, so möge mir verstattet sein, dieselbe vorzutragen und hierbei mit einigen Worten
den Zusammenhang herzustellen.

Gustav Schwamm war der Stiefsohn des Schachtarbeiters Schwamm, genannt
Zeidler. Als unehelicher Sohn der nachmals verehelichten Schwamm hieß er eigentlich
Neumann, bewies sich jedoch unter jedem der drei Namen als ein gleich talentvoller
Strolch. Da die Mutter gestorben, der Vater verschollen war, war er der Stadt
als Ziehkind zugefallen und an den Mindestfordernden vergeben worden. Der Herr
Assessor und zweite Bürgermeister hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den
Schlingel los zu werden, jedoch vergeblich; es blieb nichts übrig, als ihn auf Stadt¬
kosten zu erziehen.

Bei diesen Verhandlungen hatte sich, wie in solchen Fällen üblich ist, heraus¬
gestellt, daß der Knabe keinen Vormund hatte. Denn trotz der Vormundschafts¬
ordnung, der Waisenrätc und trotz zahlloser Aktenstücke und Berichte giebt es eine
große Zahl von Waisen, die entweder keinen oder einen so entfernt wohnenden
Vormund haben, daß die Ausübung der Vormundschaft unmöglich ist. So bean¬
tragte der Herr Assessor, daß Recherchen nach dem fraglichen Vormunde angestellt
würden, und übernahm die waisenrätliche Beaufsichtigung für sich, nud das war
hübsch vou ihm. Uebrigens war er ja auch dem alten Herrn Bürgermeister den
Beweis schuldig, daß der gegenwärtige Stand der Gesetzgebung nicht das gering¬
schätzige Achselzucken jenes alten Büreaukrnteu verdiene, der nun einmal das Wesen
der Selbstverwaltung nicht begriff. Noch hübscher war es, daß er den kinderlosen



Seeschlange Nummer eins war Ur. 10 unsrer Skizzen: Die Hiswrici von der ewigen
Schulbank.
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.

Herzenstöne vermissen, die uoch in „Quisiscma" so tief ergreifend erklangen? Was
hat der vornehm-kühle und glatte Ton, der unnachahmlich meisterhafte, trotz
cillcdem, was hat er denn, das nicht durch den lebendigen Odem des „Hammer
und Amboß," durch die gehaltene blutvolle Kraft der „Sturmflut" ersetzt und
mehr als ersetzt würde? Sollen wir denn durchaus auf diese verzichten? Und
für immer?




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
12. Seeschlange Nummer zwei.

es darf wohl nicht voraussetzen, daß man sich noch vom Jahre 1881
her (Grenzboten II, S. 461) eines gewissen Gustav Schwamm, »Ins
Zeidler, ^uäh Neumann erinnere. Ich würde mich dieses hoffnungs¬
vollen Galgenstrickes selbst nicht mehr entsinnen, wenn ich ihn nicht
kürzlich wieder in die Hände bekommen hätte, oder vielmehr ein dickes
Aktenstück, zu dem er Veranlassung gegeben hat. Da die Fabel, welche
mit Fug und Recht den Titel Seeschlange Nummer zwei'^) trägt, ziemlich lehrreich
ist, so möge mir verstattet sein, dieselbe vorzutragen und hierbei mit einigen Worten
den Zusammenhang herzustellen.

Gustav Schwamm war der Stiefsohn des Schachtarbeiters Schwamm, genannt
Zeidler. Als unehelicher Sohn der nachmals verehelichten Schwamm hieß er eigentlich
Neumann, bewies sich jedoch unter jedem der drei Namen als ein gleich talentvoller
Strolch. Da die Mutter gestorben, der Vater verschollen war, war er der Stadt
als Ziehkind zugefallen und an den Mindestfordernden vergeben worden. Der Herr
Assessor und zweite Bürgermeister hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den
Schlingel los zu werden, jedoch vergeblich; es blieb nichts übrig, als ihn auf Stadt¬
kosten zu erziehen.

Bei diesen Verhandlungen hatte sich, wie in solchen Fällen üblich ist, heraus¬
gestellt, daß der Knabe keinen Vormund hatte. Denn trotz der Vormundschafts¬
ordnung, der Waisenrätc und trotz zahlloser Aktenstücke und Berichte giebt es eine
große Zahl von Waisen, die entweder keinen oder einen so entfernt wohnenden
Vormund haben, daß die Ausübung der Vormundschaft unmöglich ist. So bean¬
tragte der Herr Assessor, daß Recherchen nach dem fraglichen Vormunde angestellt
würden, und übernahm die waisenrätliche Beaufsichtigung für sich, nud das war
hübsch vou ihm. Uebrigens war er ja auch dem alten Herrn Bürgermeister den
Beweis schuldig, daß der gegenwärtige Stand der Gesetzgebung nicht das gering¬
schätzige Achselzucken jenes alten Büreaukrnteu verdiene, der nun einmal das Wesen
der Selbstverwaltung nicht begriff. Noch hübscher war es, daß er den kinderlosen



Seeschlange Nummer eins war Ur. 10 unsrer Skizzen: Die Hiswrici von der ewigen
Schulbank.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/386>, abgerufen am 15.01.2025.