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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Handwerker der Poesie.

die Charaktere reifen, welche Empfindungen ganze Massen, welche Kräfte die
mächtige Wucht des Gemeinlebens beherrschen, welche Ideen die Geschichte
regieren," das alles ist nach Wischers Worten der Inhalt seiner Schöpfungen,
die empfunden, stimmungsvoll, gefühlssatt sein müssen, sofern sie echt sind.

Daß mit der innigen Empfindung für den Gefühlswert der Dinge der
scharfe Blick für die Formen der Welt verbunden sei, ist die zweite Forderung.
.Hellsichtig, "durchbohrend," "packend" mit Blitzesklarheit soll das Auge des
Dichters die Gestalten der Außenwelt erfassen, und die also erschauten Gestalten
soll seine Kunst der Phantasie seiner Hörer lebendig einprägen. Aber wohl¬
gemerkt, nicht um ihrer selbst willen bildet er Gestalten, sondern um des Ge¬
fühlswertes, deu sie bergen, für das Gemüt desjenigen, in dem sie lebendig
werden. Was ihr Inhalt ist, sollen alle die bunten Formen sagen. Zeichnung der
Welt und Natur, der Menschen und Tiere, kurz alle äußere Schilderung mündet
in Darstellung innern Lebens in deu Schöpfungen des Dichters, der "alles
Leben zum Seelenleben" (Bischer) wendet. Darum faßt der Dichter die Aufgabe
aller Kunst im tiefsten Grunde: die Welt der Werte in die der Formen zu
kleiden. Ju seinen Werken wird die "Welt durchsichtig" und das Leben liegt
"enthüllt" vor uns. Goethe schildert, wie Bischer sagt, das Wesen des Dichters,
wenn er von Shakespeare rühmt, daß er sich zum Weltgeist gesellt, wie jener
die Welt durchdringt und den Sinn ihres Geheimnisses verschwatzt, das heraus
muß, und sollten es die Steine verkünden, daß wir die Wahrheit erfahren nud
wissen nicht wie.

Alle Kunst und Kraft des Dichters muß sich an seinen Menschen zeigen.
Der Dichter allein faßt die menschliche Persönlichkeit, den Hauptgegenstand aller
Kunst, im Kern ihres Wesens. An seinen Menschenbildern, zu deren Gestaltung
alles zusammenströmt, was an Gefühl, Persönlichkeit, Scharfblick, Lebens¬
erfahrung, Weltkenntnis in ihm ist, muß sichs zeigen, ob in Wahrheit lebendige
Schöpferkraft in ihm pulsirt. Besitzt er sie, so bildet er seine Geschöpfe zu
Menschen mit lebendigem Odem, eignem Gefühl und handelnden Willen, ein
Geschlecht, das ihm gleich sei. Und hier ist wieder Shakespeare, von Goethe
ausgelegt, Muster und Meister: "Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete
ihm Zug für Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe -- und
dann belebte er sie mit dem Hauche seines Geistes." "Diese geheimnisvollster
und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken,
als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse mau vou Krystall
gebildet hätte; sie zeigen uach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an,
und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt."
In diesem Sinne ist der Dichter auch sür uns ein Seher und muß es sein.
Die Wand, die jeder Mensch vor seinem Herzen hat, ist für den Mann mit
dem Seherblick nicht vorhanden. Nur wer den hat, ist in Wahrheit ein Dichter.
Nur wer verschlossene Gefühle, Gedanken, Entschlüsse andrer, ihr ganzes Wesen


Die Handwerker der Poesie.

die Charaktere reifen, welche Empfindungen ganze Massen, welche Kräfte die
mächtige Wucht des Gemeinlebens beherrschen, welche Ideen die Geschichte
regieren," das alles ist nach Wischers Worten der Inhalt seiner Schöpfungen,
die empfunden, stimmungsvoll, gefühlssatt sein müssen, sofern sie echt sind.

Daß mit der innigen Empfindung für den Gefühlswert der Dinge der
scharfe Blick für die Formen der Welt verbunden sei, ist die zweite Forderung.
.Hellsichtig, „durchbohrend," „packend" mit Blitzesklarheit soll das Auge des
Dichters die Gestalten der Außenwelt erfassen, und die also erschauten Gestalten
soll seine Kunst der Phantasie seiner Hörer lebendig einprägen. Aber wohl¬
gemerkt, nicht um ihrer selbst willen bildet er Gestalten, sondern um des Ge¬
fühlswertes, deu sie bergen, für das Gemüt desjenigen, in dem sie lebendig
werden. Was ihr Inhalt ist, sollen alle die bunten Formen sagen. Zeichnung der
Welt und Natur, der Menschen und Tiere, kurz alle äußere Schilderung mündet
in Darstellung innern Lebens in deu Schöpfungen des Dichters, der „alles
Leben zum Seelenleben" (Bischer) wendet. Darum faßt der Dichter die Aufgabe
aller Kunst im tiefsten Grunde: die Welt der Werte in die der Formen zu
kleiden. Ju seinen Werken wird die „Welt durchsichtig" und das Leben liegt
„enthüllt" vor uns. Goethe schildert, wie Bischer sagt, das Wesen des Dichters,
wenn er von Shakespeare rühmt, daß er sich zum Weltgeist gesellt, wie jener
die Welt durchdringt und den Sinn ihres Geheimnisses verschwatzt, das heraus
muß, und sollten es die Steine verkünden, daß wir die Wahrheit erfahren nud
wissen nicht wie.

Alle Kunst und Kraft des Dichters muß sich an seinen Menschen zeigen.
Der Dichter allein faßt die menschliche Persönlichkeit, den Hauptgegenstand aller
Kunst, im Kern ihres Wesens. An seinen Menschenbildern, zu deren Gestaltung
alles zusammenströmt, was an Gefühl, Persönlichkeit, Scharfblick, Lebens¬
erfahrung, Weltkenntnis in ihm ist, muß sichs zeigen, ob in Wahrheit lebendige
Schöpferkraft in ihm pulsirt. Besitzt er sie, so bildet er seine Geschöpfe zu
Menschen mit lebendigem Odem, eignem Gefühl und handelnden Willen, ein
Geschlecht, das ihm gleich sei. Und hier ist wieder Shakespeare, von Goethe
ausgelegt, Muster und Meister: „Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete
ihm Zug für Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe — und
dann belebte er sie mit dem Hauche seines Geistes." „Diese geheimnisvollster
und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken,
als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse mau vou Krystall
gebildet hätte; sie zeigen uach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an,
und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt."
In diesem Sinne ist der Dichter auch sür uns ein Seher und muß es sein.
Die Wand, die jeder Mensch vor seinem Herzen hat, ist für den Mann mit
dem Seherblick nicht vorhanden. Nur wer den hat, ist in Wahrheit ein Dichter.
Nur wer verschlossene Gefühle, Gedanken, Entschlüsse andrer, ihr ganzes Wesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/37>, abgerufen am 15.01.2025.