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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Konferenz in Konstantinopel.

auf der Balkanhalbinsel zur Notiz nehmen konnten. Fürst Alexander, der ohne
Erlaubnis der Russen gehandelt hatte, muß unverrichteter Sache umkehren
und wird froh sein können, wenn er dnrch Vermittelung Englands, dessen
Königin mit ihm verschwägert ist, und durch die Fürsprache von Mächten, die
auf dem bulgarischen Throne kein Werkzeug der Petersburger Politik sehen
wollen, der Absetzung entgeht. Die Bulgaren erfahren, daß sie ohne russische
Leitung nichts thun und erreichen können. Rußland verliert etwas an mora¬
lischem Ansehen bei den Pcmslawisten, wenn es die Befreiung von Slawen von
der Herrschaft der Pforte für jetzt vereitelt, aber es zeigt ihnen, daß der Zar
ihr einziger Befreier ist und alle andern falsche Propheten sind. Die indirekte
Gönnerschaft gegenüber der Türkei scheint nicht zu dem seit Generationen fort¬
gesetzten Vordringen gegen Konstantinopel zu stimmen; wenn wir uns indes
umsehen, bemerken wir, daß Nußland immer abwechselnd die Pforte angegriffen
und unter seine schützenden Flügel genommen hat. Der Schutz wurde aber
immer nur gewährt, um andre abzuhalten, sich zu nehmen, was man selbst der¬
einst sich nehmen zu können hoffte. Als z. B. fünf Jahre nach dem russisch¬
türkischen Kriege von 1828 Mehemed Ali durch Syrien gegen Stambul
heranzog, rettete ein russisches Korps dem Sultan seinen Thron vor dem ge¬
waltigen Ägypter. Ein vereinigtes Bulgareulcmd hätte mit der Zeit die Kraft
erlangen können, mit den Türken auf eigne Rechnung Krieg zu führen und
ihnen von ihrem Besitze zu nehmen, und die kleinern Nachbarn hätten sich dann
wohl angeschlossen und ebenfalls Bellte gesucht. Jetzt finden alle die Kleinen,
daß der große Zar solche Pläne nicht vorbereiten läßt, und diese Erfahrung
wird lange nachwirken.

Weniger glücklich hat bis jetzt Österreich operirt, indem es Serbien erst
ermutigte und dann abmahnte. Wenn aber Wiener Blätter davon reden, daß
man es von Berlin aus zu einer wenig ehrenvollen Unterwerfung unter russische
Forderungen genötigt habe, so ist das völlig grundloses Gerede, das keiner
Widerlegung bedarf. Deutschland geht aus der Angelegenheit mit heiterer Ruhe
als das hervor, was es seit vierzehn Jahren immer gewesen ist, als die große
unparteiische Macht, die kein andres Interesse als die Erhaltung des Weltfriedens
hat, und keine andre Politik als die verfolgt, sich widersprechende Interessen
andrer nach Möglichkeit ratend, nicht nötigend und gebietend, zu vermitteln
und auszugleichen, und die sich in dieser Eigenschaft des allgemeinen Vertrauens
und Entgegenkommens erfreut. Wie aus der Rede hervorgeht, die Graf Kalnoky
vor der ungarischen Delegation hielt, hat sich in den Beziehungen Österreich-
Ungarns zu Deutschland und dieser beiden Mächte zu Nußland im letzten Jahre
durchaus nichts geändert. Das Verhältnis der beiden ersteren Mächte beruht
nach ihm auf Grundlagen, die kein politisches Ereignis verrücken kann. Die
Beziehungen Österreich-Ungarns zu Rußland basiren ausschließlich auf allge¬
meinen völkerrechtlichen Verträgen, nicht auf einem besondern Abkommen. Beide


Die Konferenz in Konstantinopel.

auf der Balkanhalbinsel zur Notiz nehmen konnten. Fürst Alexander, der ohne
Erlaubnis der Russen gehandelt hatte, muß unverrichteter Sache umkehren
und wird froh sein können, wenn er dnrch Vermittelung Englands, dessen
Königin mit ihm verschwägert ist, und durch die Fürsprache von Mächten, die
auf dem bulgarischen Throne kein Werkzeug der Petersburger Politik sehen
wollen, der Absetzung entgeht. Die Bulgaren erfahren, daß sie ohne russische
Leitung nichts thun und erreichen können. Rußland verliert etwas an mora¬
lischem Ansehen bei den Pcmslawisten, wenn es die Befreiung von Slawen von
der Herrschaft der Pforte für jetzt vereitelt, aber es zeigt ihnen, daß der Zar
ihr einziger Befreier ist und alle andern falsche Propheten sind. Die indirekte
Gönnerschaft gegenüber der Türkei scheint nicht zu dem seit Generationen fort¬
gesetzten Vordringen gegen Konstantinopel zu stimmen; wenn wir uns indes
umsehen, bemerken wir, daß Nußland immer abwechselnd die Pforte angegriffen
und unter seine schützenden Flügel genommen hat. Der Schutz wurde aber
immer nur gewährt, um andre abzuhalten, sich zu nehmen, was man selbst der¬
einst sich nehmen zu können hoffte. Als z. B. fünf Jahre nach dem russisch¬
türkischen Kriege von 1828 Mehemed Ali durch Syrien gegen Stambul
heranzog, rettete ein russisches Korps dem Sultan seinen Thron vor dem ge¬
waltigen Ägypter. Ein vereinigtes Bulgareulcmd hätte mit der Zeit die Kraft
erlangen können, mit den Türken auf eigne Rechnung Krieg zu führen und
ihnen von ihrem Besitze zu nehmen, und die kleinern Nachbarn hätten sich dann
wohl angeschlossen und ebenfalls Bellte gesucht. Jetzt finden alle die Kleinen,
daß der große Zar solche Pläne nicht vorbereiten läßt, und diese Erfahrung
wird lange nachwirken.

Weniger glücklich hat bis jetzt Österreich operirt, indem es Serbien erst
ermutigte und dann abmahnte. Wenn aber Wiener Blätter davon reden, daß
man es von Berlin aus zu einer wenig ehrenvollen Unterwerfung unter russische
Forderungen genötigt habe, so ist das völlig grundloses Gerede, das keiner
Widerlegung bedarf. Deutschland geht aus der Angelegenheit mit heiterer Ruhe
als das hervor, was es seit vierzehn Jahren immer gewesen ist, als die große
unparteiische Macht, die kein andres Interesse als die Erhaltung des Weltfriedens
hat, und keine andre Politik als die verfolgt, sich widersprechende Interessen
andrer nach Möglichkeit ratend, nicht nötigend und gebietend, zu vermitteln
und auszugleichen, und die sich in dieser Eigenschaft des allgemeinen Vertrauens
und Entgegenkommens erfreut. Wie aus der Rede hervorgeht, die Graf Kalnoky
vor der ungarischen Delegation hielt, hat sich in den Beziehungen Österreich-
Ungarns zu Deutschland und dieser beiden Mächte zu Nußland im letzten Jahre
durchaus nichts geändert. Das Verhältnis der beiden ersteren Mächte beruht
nach ihm auf Grundlagen, die kein politisches Ereignis verrücken kann. Die
Beziehungen Österreich-Ungarns zu Rußland basiren ausschließlich auf allge¬
meinen völkerrechtlichen Verträgen, nicht auf einem besondern Abkommen. Beide


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/351>, abgerufen am 15.01.2025.