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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zum Sozialistengesetz.

schwergeprüften Generationen wird wieder emporsteigen und sich auf die alten
Güter der Zivilisation besinnen, die ihr im wüsten Traum abhanden gekommen
waren. Aber kann ein fühlender Geist sich damit beruhigen, daß es einst doch
wieder besser werden wird? Darf er über die Zwischenperiode mit ihren ent¬
setzlichen Leiden und Verwüstungen so ruhig hinweggehen, wie sie auch eine lahme
Phantasie sich aus den Erfahrungen der Pariser Kommune vorführen muß?

Kindliche Gemüter kommen jetzt dieser Geringschätzung der Gefahr zu Hilfe,
indem sie einmal sagen, die Spaltung der Gegner in Anarchisten und zahme
Sozicildemvkratcn beweise ja, daß man die Gesetzgebungsmaßregeln auf die erstere
Richtung beschränken dürfe und die Dynamithelden zwar auf den Tod verfolgen
möge, aber die zahmen Sozialisten, die an die "guten Revolutionäre" Virchows
erinnern, die könne man füglich unter das gewöhnliche Gesetz stellen. Die erste
Wendung beweist eine große Unwissenheit. Der Unterschied der beiden roten
Zweige ist nicht der einer gesetzlosen und einer gesetzlichen Bekämpfung der
gegenwärtigen Gesellschaft. Die "zahmen" haben vielmehr erklärt, daß die
Sozialdemokratie die Beschränkung auf die "gesetzlichen" Mittel, ihre Gegner
zu bekämpfen, nicht anerkennt, ja nie anerkannt hat. Sie sagen: "Die erdrückende
Mehrzahl der deutschen Sozialdemokraten hat sich niemals dem Wahne hin¬
gegeben, daß sie ihre Grundsätze in aller Friedlichkeit ans dem rein gesetzlichen
Wege würde durchsetzen können, das heißt, daß die bevorrechteten Klassen frei¬
willig und ohne Zwang ihre bevorrechtete Stellung aufgeben würden. Will es
nicht biegen von oben herab, so muß es brechen von unten hinauf. In diesem
Falle befinden wir uns heute in Deutschland." Das ist deutlich. Diese
frommen Gemüter erzählen weiter, daß sie noch nicht losschlagen, weil das Volk
noch nicht genügend vorbereitet sei und so das Blut des Volkes umsonst vergeudet
werden würde. "Kommt es dann in unaufhaltsamem Gange schließlich zum äußer¬
sten, nun, so werden die deutschen Svzialdemvtrciten zeigen, daß sie auch da ihre
Schuldigkeit zu thun wissen, sie werden dann wohlgerüstet und mit der Aussicht
auf Sieg in den Kampf gehen." So äußern sich die angeblich den Dynamit-
Helden so feindlich entgegenstehenden liebenswürdigen Roten, die es allerdings
freudig begrüßen würden, wenn sie von Herrn Gneist die freie Presse und von
den Fortschrittlern die freie Vereinsthätigkeit wieder bekämen.

Und das Zentrum? Wie stellt es sich zu diesen Bestrebungen? Es hat
gegen das Gesetz gestimmt und liebt es, als Beschützer der Freiheit aufzu¬
treten. In Rom durchschaut man wohl die Natur der Sozialdemokratie
und arbeitet ihr, wiewohl vergeblich, entgegen. Das Zentrum denkt natürlich
ähnlich, aber es weiß von vornherein, wie durch Offenbarung, daß nur die
atholischc Kirche den Dämon der Sozialdemokratie austreiben könne. Beweise
braucht mau dafür nicht; aber man läßt sich auch durch Gegenbeweise nicht
einschüchtern. Denn wird gezeigt, daß die rote Bewegung in unzweifelhaft
katholischen Ländern, wie Spanien und Belgien und Frankreich, recht gute


Zum Sozialistengesetz.

schwergeprüften Generationen wird wieder emporsteigen und sich auf die alten
Güter der Zivilisation besinnen, die ihr im wüsten Traum abhanden gekommen
waren. Aber kann ein fühlender Geist sich damit beruhigen, daß es einst doch
wieder besser werden wird? Darf er über die Zwischenperiode mit ihren ent¬
setzlichen Leiden und Verwüstungen so ruhig hinweggehen, wie sie auch eine lahme
Phantasie sich aus den Erfahrungen der Pariser Kommune vorführen muß?

Kindliche Gemüter kommen jetzt dieser Geringschätzung der Gefahr zu Hilfe,
indem sie einmal sagen, die Spaltung der Gegner in Anarchisten und zahme
Sozicildemvkratcn beweise ja, daß man die Gesetzgebungsmaßregeln auf die erstere
Richtung beschränken dürfe und die Dynamithelden zwar auf den Tod verfolgen
möge, aber die zahmen Sozialisten, die an die „guten Revolutionäre" Virchows
erinnern, die könne man füglich unter das gewöhnliche Gesetz stellen. Die erste
Wendung beweist eine große Unwissenheit. Der Unterschied der beiden roten
Zweige ist nicht der einer gesetzlosen und einer gesetzlichen Bekämpfung der
gegenwärtigen Gesellschaft. Die „zahmen" haben vielmehr erklärt, daß die
Sozialdemokratie die Beschränkung auf die „gesetzlichen" Mittel, ihre Gegner
zu bekämpfen, nicht anerkennt, ja nie anerkannt hat. Sie sagen: „Die erdrückende
Mehrzahl der deutschen Sozialdemokraten hat sich niemals dem Wahne hin¬
gegeben, daß sie ihre Grundsätze in aller Friedlichkeit ans dem rein gesetzlichen
Wege würde durchsetzen können, das heißt, daß die bevorrechteten Klassen frei¬
willig und ohne Zwang ihre bevorrechtete Stellung aufgeben würden. Will es
nicht biegen von oben herab, so muß es brechen von unten hinauf. In diesem
Falle befinden wir uns heute in Deutschland." Das ist deutlich. Diese
frommen Gemüter erzählen weiter, daß sie noch nicht losschlagen, weil das Volk
noch nicht genügend vorbereitet sei und so das Blut des Volkes umsonst vergeudet
werden würde. „Kommt es dann in unaufhaltsamem Gange schließlich zum äußer¬
sten, nun, so werden die deutschen Svzialdemvtrciten zeigen, daß sie auch da ihre
Schuldigkeit zu thun wissen, sie werden dann wohlgerüstet und mit der Aussicht
auf Sieg in den Kampf gehen." So äußern sich die angeblich den Dynamit-
Helden so feindlich entgegenstehenden liebenswürdigen Roten, die es allerdings
freudig begrüßen würden, wenn sie von Herrn Gneist die freie Presse und von
den Fortschrittlern die freie Vereinsthätigkeit wieder bekämen.

Und das Zentrum? Wie stellt es sich zu diesen Bestrebungen? Es hat
gegen das Gesetz gestimmt und liebt es, als Beschützer der Freiheit aufzu¬
treten. In Rom durchschaut man wohl die Natur der Sozialdemokratie
und arbeitet ihr, wiewohl vergeblich, entgegen. Das Zentrum denkt natürlich
ähnlich, aber es weiß von vornherein, wie durch Offenbarung, daß nur die
atholischc Kirche den Dämon der Sozialdemokratie austreiben könne. Beweise
braucht mau dafür nicht; aber man läßt sich auch durch Gegenbeweise nicht
einschüchtern. Denn wird gezeigt, daß die rote Bewegung in unzweifelhaft
katholischen Ländern, wie Spanien und Belgien und Frankreich, recht gute


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[0324] Zum Sozialistengesetz. schwergeprüften Generationen wird wieder emporsteigen und sich auf die alten Güter der Zivilisation besinnen, die ihr im wüsten Traum abhanden gekommen waren. Aber kann ein fühlender Geist sich damit beruhigen, daß es einst doch wieder besser werden wird? Darf er über die Zwischenperiode mit ihren ent¬ setzlichen Leiden und Verwüstungen so ruhig hinweggehen, wie sie auch eine lahme Phantasie sich aus den Erfahrungen der Pariser Kommune vorführen muß? Kindliche Gemüter kommen jetzt dieser Geringschätzung der Gefahr zu Hilfe, indem sie einmal sagen, die Spaltung der Gegner in Anarchisten und zahme Sozicildemvkratcn beweise ja, daß man die Gesetzgebungsmaßregeln auf die erstere Richtung beschränken dürfe und die Dynamithelden zwar auf den Tod verfolgen möge, aber die zahmen Sozialisten, die an die „guten Revolutionäre" Virchows erinnern, die könne man füglich unter das gewöhnliche Gesetz stellen. Die erste Wendung beweist eine große Unwissenheit. Der Unterschied der beiden roten Zweige ist nicht der einer gesetzlosen und einer gesetzlichen Bekämpfung der gegenwärtigen Gesellschaft. Die „zahmen" haben vielmehr erklärt, daß die Sozialdemokratie die Beschränkung auf die „gesetzlichen" Mittel, ihre Gegner zu bekämpfen, nicht anerkennt, ja nie anerkannt hat. Sie sagen: „Die erdrückende Mehrzahl der deutschen Sozialdemokraten hat sich niemals dem Wahne hin¬ gegeben, daß sie ihre Grundsätze in aller Friedlichkeit ans dem rein gesetzlichen Wege würde durchsetzen können, das heißt, daß die bevorrechteten Klassen frei¬ willig und ohne Zwang ihre bevorrechtete Stellung aufgeben würden. Will es nicht biegen von oben herab, so muß es brechen von unten hinauf. In diesem Falle befinden wir uns heute in Deutschland." Das ist deutlich. Diese frommen Gemüter erzählen weiter, daß sie noch nicht losschlagen, weil das Volk noch nicht genügend vorbereitet sei und so das Blut des Volkes umsonst vergeudet werden würde. „Kommt es dann in unaufhaltsamem Gange schließlich zum äußer¬ sten, nun, so werden die deutschen Svzialdemvtrciten zeigen, daß sie auch da ihre Schuldigkeit zu thun wissen, sie werden dann wohlgerüstet und mit der Aussicht auf Sieg in den Kampf gehen." So äußern sich die angeblich den Dynamit- Helden so feindlich entgegenstehenden liebenswürdigen Roten, die es allerdings freudig begrüßen würden, wenn sie von Herrn Gneist die freie Presse und von den Fortschrittlern die freie Vereinsthätigkeit wieder bekämen. Und das Zentrum? Wie stellt es sich zu diesen Bestrebungen? Es hat gegen das Gesetz gestimmt und liebt es, als Beschützer der Freiheit aufzu¬ treten. In Rom durchschaut man wohl die Natur der Sozialdemokratie und arbeitet ihr, wiewohl vergeblich, entgegen. Das Zentrum denkt natürlich ähnlich, aber es weiß von vornherein, wie durch Offenbarung, daß nur die atholischc Kirche den Dämon der Sozialdemokratie austreiben könne. Beweise braucht mau dafür nicht; aber man läßt sich auch durch Gegenbeweise nicht einschüchtern. Denn wird gezeigt, daß die rote Bewegung in unzweifelhaft katholischen Ländern, wie Spanien und Belgien und Frankreich, recht gute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/324>, abgerufen am 15.01.2025.