Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Literatur. tagssitzung sagte: "Ich glaube nicht, daß eine Fraktion das Recht hat, sich aus¬ Die Erziehung Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlaß von Ernst Brntuscheck. Mit einem Borwort von Prof. or. Ed. Mätzner. Berlin, Georg Reimer, 1885. Diese Schrift fand sich im Nachlasse des verstorbnen Professors der Philosophie Literatur. tagssitzung sagte: „Ich glaube nicht, daß eine Fraktion das Recht hat, sich aus¬ Die Erziehung Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlaß von Ernst Brntuscheck. Mit einem Borwort von Prof. or. Ed. Mätzner. Berlin, Georg Reimer, 1885. Diese Schrift fand sich im Nachlasse des verstorbnen Professors der Philosophie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197052"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1027" prev="#ID_1026"> tagssitzung sagte: „Ich glaube nicht, daß eine Fraktion das Recht hat, sich aus¬<lb/> schließlich eine Gesinnung zu vindiziren, an der wir alle den gleichen Anteil haben.<lb/> (Zustimmung.) Ich glaube, wir sind alle freisinnig." Damit hat also auch Fürst<lb/> Bismarck sich zum „Liberalismus" bekannt, wenn auch dieser Liberalismus etwas<lb/> anders geartet sein mag, als der von den Abgeordneten Richter und Bamberger<lb/> vertretene. Und wenn der Reichskanzler, um nicht das Individuum als Opfer der<lb/> Gesellschaft zu gründe gehen zu lassen, für die Kranken- und Unfallversicherung<lb/> sorgte, hat er damit nicht auch dem „Individualismus" gehuldigt? Man möge die<lb/> Fehler nud Uebertreibungen, die im Namen des Liberalismus geübt worden sind, auf¬<lb/> decken. Dann thut man ein nützliches Werk. Aber solche allgemeine Anschul¬<lb/> digungen kommen nicht über den Wert der Phrase hinaus. Und was soll man<lb/> dazu sagen, wenn z. B. Muudiug (S. 85) sagt: ,,Der Mensch ist ein soziales<lb/> Wesen. So lange er in Gesellschaft lebt, kämpft er vergebens um seine persönliche<lb/> Freiheit. Es ist sein Schicksal, sich zu ducken und zu krümmen, sich unter- und<lb/> einzuordnen." Daß der Mensch sich in der bürgerlichen Gesellschaft unter- und<lb/> einordnen muß, wird kein vernünftiger Mensch, auch kein Liberaler, bestreiten. Daß<lb/> er aber vom Schicksal dazu bestimmt sei, „sich zu ducken und zu krümmen," ist<lb/> ein Satz, dessen Aufstellung uns zur Bekämpfung der Sozialdemvkmtie sehr wenig<lb/> geeignet erscheint.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Die Erziehung Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlaß von Ernst Brntuscheck.<lb/> Mit einem Borwort von Prof. or. Ed. Mätzner. Berlin, Georg Reimer, 1885.</head><lb/> <p xml:id="ID_1028" next="#ID_1029"> Diese Schrift fand sich im Nachlasse des verstorbnen Professors der Philosophie<lb/> Bratuscheck, sie sollte die Vorläufcrin eines größern Werkes über die Philosophie<lb/> Friedrichs des Großen sein. Von der letzteren Arbeit — übrigens einem Thema,<lb/> dessen eingehende Bearbeitung uns jetzt Zeller in Aussicht gestellt hat — sind nur<lb/> Fragmente vorhanden. Mit umsichtiger Benutzung des gedruckten Materials giebt<lb/> Bratuscheck einen dankenswerten Ueberblick über den Entwicklungsgang Friedrichs des<lb/> Großen bis zur Thronbesteigung. Neu ist das Ergebnis, daß der Erziehungsplan,<lb/> nach welchem zwei so verschieden geartete Herrscher wie Friedrich Wilhelm der Erste<lb/> und Friedrich der Große gebildet worden sind, von Leibniz herrührt. Als Friedrich<lb/> der Große nach zurückgelegtem sechsten Lebensjahre männlicher Leitung übergeben<lb/> wurde, erneuerte Friedrich Wilhelm der Erste für die Erzieher seines Sohnes die<lb/> Instruktionen, welche sein Vater 1695 für seine eignen Erzieher erlassen hatte; ohne<lb/> Zweifel war es ihm bekannt, daß dieselben nach den Ideen Sophie Charlottens<lb/> verfaßt waren. Der eigentliche Urheber aber ist Leibniz. Dieser verfaßte in der<lb/> Zeit, wo der junge Friedrich Wilhelm mehrere Monate in Hannover am Hofe weilte,<lb/> 1693, eine französische Denkschrift: Grasel cle- 1'vciuoa.lion ä'un xriuvo, welche so<lb/> eigenartig ist, daß die auffallende Uebereinstimmung mit der 1695 erlassenen Er-<lb/> ziehnngsinstrnktion nicht zufällig sein kann. Aus der einseitigen Geistesrichtung<lb/> Friedrich Wilhelms erklären sich die Aenderungen, welche er 1718 an dieser In¬<lb/> struktion vornahm. Der für Friedrich den Großen erneuerte Erziehungsplan trägt<lb/> das Gepräge der absoluten Einfachheit und berücksichtigt überhaupt nur das Not¬<lb/> wendige und für den künftigen Beruf unmittelbar Nützliche. Das Latein schließt<lb/> Friedrich Wilhelm, wohl von Thomasius beeinflußt, gänzlich aus. Bratuscheck stellt<lb/> nun bis ins Einzelnste alles zusammen, was die Quellen und die neuesten Dar¬<lb/> stellungen über die Erziehung Friedrichs enthalten, wobei nur zu bedauern ist, daß<lb/> der Verfasser Cakes Memoiren nicht mehr hat benutzen können. Daß Friedrich von<lb/> seinem Lehrer Duham kein richtiges Französisch und noch viel weniger Deutsch lernte,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0318]
Literatur.
tagssitzung sagte: „Ich glaube nicht, daß eine Fraktion das Recht hat, sich aus¬
schließlich eine Gesinnung zu vindiziren, an der wir alle den gleichen Anteil haben.
(Zustimmung.) Ich glaube, wir sind alle freisinnig." Damit hat also auch Fürst
Bismarck sich zum „Liberalismus" bekannt, wenn auch dieser Liberalismus etwas
anders geartet sein mag, als der von den Abgeordneten Richter und Bamberger
vertretene. Und wenn der Reichskanzler, um nicht das Individuum als Opfer der
Gesellschaft zu gründe gehen zu lassen, für die Kranken- und Unfallversicherung
sorgte, hat er damit nicht auch dem „Individualismus" gehuldigt? Man möge die
Fehler nud Uebertreibungen, die im Namen des Liberalismus geübt worden sind, auf¬
decken. Dann thut man ein nützliches Werk. Aber solche allgemeine Anschul¬
digungen kommen nicht über den Wert der Phrase hinaus. Und was soll man
dazu sagen, wenn z. B. Muudiug (S. 85) sagt: ,,Der Mensch ist ein soziales
Wesen. So lange er in Gesellschaft lebt, kämpft er vergebens um seine persönliche
Freiheit. Es ist sein Schicksal, sich zu ducken und zu krümmen, sich unter- und
einzuordnen." Daß der Mensch sich in der bürgerlichen Gesellschaft unter- und
einordnen muß, wird kein vernünftiger Mensch, auch kein Liberaler, bestreiten. Daß
er aber vom Schicksal dazu bestimmt sei, „sich zu ducken und zu krümmen," ist
ein Satz, dessen Aufstellung uns zur Bekämpfung der Sozialdemvkmtie sehr wenig
geeignet erscheint.
Die Erziehung Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlaß von Ernst Brntuscheck.
Mit einem Borwort von Prof. or. Ed. Mätzner. Berlin, Georg Reimer, 1885.
Diese Schrift fand sich im Nachlasse des verstorbnen Professors der Philosophie
Bratuscheck, sie sollte die Vorläufcrin eines größern Werkes über die Philosophie
Friedrichs des Großen sein. Von der letzteren Arbeit — übrigens einem Thema,
dessen eingehende Bearbeitung uns jetzt Zeller in Aussicht gestellt hat — sind nur
Fragmente vorhanden. Mit umsichtiger Benutzung des gedruckten Materials giebt
Bratuscheck einen dankenswerten Ueberblick über den Entwicklungsgang Friedrichs des
Großen bis zur Thronbesteigung. Neu ist das Ergebnis, daß der Erziehungsplan,
nach welchem zwei so verschieden geartete Herrscher wie Friedrich Wilhelm der Erste
und Friedrich der Große gebildet worden sind, von Leibniz herrührt. Als Friedrich
der Große nach zurückgelegtem sechsten Lebensjahre männlicher Leitung übergeben
wurde, erneuerte Friedrich Wilhelm der Erste für die Erzieher seines Sohnes die
Instruktionen, welche sein Vater 1695 für seine eignen Erzieher erlassen hatte; ohne
Zweifel war es ihm bekannt, daß dieselben nach den Ideen Sophie Charlottens
verfaßt waren. Der eigentliche Urheber aber ist Leibniz. Dieser verfaßte in der
Zeit, wo der junge Friedrich Wilhelm mehrere Monate in Hannover am Hofe weilte,
1693, eine französische Denkschrift: Grasel cle- 1'vciuoa.lion ä'un xriuvo, welche so
eigenartig ist, daß die auffallende Uebereinstimmung mit der 1695 erlassenen Er-
ziehnngsinstrnktion nicht zufällig sein kann. Aus der einseitigen Geistesrichtung
Friedrich Wilhelms erklären sich die Aenderungen, welche er 1718 an dieser In¬
struktion vornahm. Der für Friedrich den Großen erneuerte Erziehungsplan trägt
das Gepräge der absoluten Einfachheit und berücksichtigt überhaupt nur das Not¬
wendige und für den künftigen Beruf unmittelbar Nützliche. Das Latein schließt
Friedrich Wilhelm, wohl von Thomasius beeinflußt, gänzlich aus. Bratuscheck stellt
nun bis ins Einzelnste alles zusammen, was die Quellen und die neuesten Dar¬
stellungen über die Erziehung Friedrichs enthalten, wobei nur zu bedauern ist, daß
der Verfasser Cakes Memoiren nicht mehr hat benutzen können. Daß Friedrich von
seinem Lehrer Duham kein richtiges Französisch und noch viel weniger Deutsch lernte,
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