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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dem Stilfser Joch.

lassen Sie mir noch etwas Zeit, mich mit mir auseinanderzusetzen, und lassen
Sie uns beide auf eine schöne Zukunft hoffen.

Noch hatte Harald ihre Hand im Abschicdsdrucke nicht losgelassen, da
hauchte ihm Vroni einen Kuß ans die Stirn und entfloh ins Nebenzimmer.

Harald kam erst spät nach Hause, sein ganzes Innere war in Aufregung
geraten, und die laue Frühlingsnacht hatte bei dem Wege durch den Tiergarten
alle seine Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht. Erst nach und nach ließ das
Stürmen nach, und er konnte wieder ruhigere Gedanken fassen. Aber es war
nicht die Freude des Sieges, die ihn überkam; nicht die Hoffnung mochte seiner
Brust Heller leuchten. Denn je mehr er sich diese letzte Szene mit Vroni
überlegte, umsomehr schien es ihm, als ob dieser Kuß eher das Zeichen einer
ewigen Trennung, als das Signal erkannter Liebe sein sollte. Denn aus den
Worten des Mädchens war es doch offenbar, daß Vroni noch immer nicht mit
sich einig war, daß, obgleich ihr seine Liebe unzweifelhaft geworden war, immer noch
Gespenster in ihrem Kopfe herumspnkten, die dieser Liebe entgegentraten. Harald
hoffte von der Einsamkeit, in welcher sich jetzt das Mädchen befinden würde,
einen günstigen Erfolg; die Saat war ausgestreut, auch der gute Wille, die
Ernte vorzubereiten, schien vorhanden, und so sollte diese Einkehr bei sich selbst
die ersehnte Frucht reifen lassen. Aber wenn Vroni doch wieder schwankend
wurde, wenn sie den Verlockungen nur so lange Widerstand leisten könnte, als
ihr der Freund nahe war? Harald konnte diesen Gedanken nicht fassen, er
fühlte nur zu sehr, wie jede Fiber seines Herzens an diesem Mädchen hing.

Es ist eine weise Einrichtung der Vorsehung, daß die rauhe Wirklichkeit
des Lebens mildernd und besänftigend auf das Gemüt der Menschen wirkt.
Wohl zürnte Harald dem Schicksal, daß er mit diesen Gedanken in der Brust
am andern Morgen wieder seinen Unterricht aufzunehmen hatte; allein während
desselben vergaß er doch allmählich die Dinge, die ihn bewegten, und er ging
nach vollbrachtem Tagewerke viel ruhiger nach seinem Hanse, als er beim Ver¬
lassen desselben am Morgen gewesen war. Diese ruhigere Stimmung war es
auch, die ihn veranlaßte, von dem Briefe, den er an Vroni geplant und schon
entworfen hatte, wieder Abstand zu nehmen; er wollte ihren Willen, sich selbst
und unbeeinflußt zurecht zu finden, achten und auch so schnell das Mädchen nicht
wiedersehen. (Fortsetzung folgt.)




Auf dem Stilfser Joch.

lassen Sie mir noch etwas Zeit, mich mit mir auseinanderzusetzen, und lassen
Sie uns beide auf eine schöne Zukunft hoffen.

Noch hatte Harald ihre Hand im Abschicdsdrucke nicht losgelassen, da
hauchte ihm Vroni einen Kuß ans die Stirn und entfloh ins Nebenzimmer.

Harald kam erst spät nach Hause, sein ganzes Innere war in Aufregung
geraten, und die laue Frühlingsnacht hatte bei dem Wege durch den Tiergarten
alle seine Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht. Erst nach und nach ließ das
Stürmen nach, und er konnte wieder ruhigere Gedanken fassen. Aber es war
nicht die Freude des Sieges, die ihn überkam; nicht die Hoffnung mochte seiner
Brust Heller leuchten. Denn je mehr er sich diese letzte Szene mit Vroni
überlegte, umsomehr schien es ihm, als ob dieser Kuß eher das Zeichen einer
ewigen Trennung, als das Signal erkannter Liebe sein sollte. Denn aus den
Worten des Mädchens war es doch offenbar, daß Vroni noch immer nicht mit
sich einig war, daß, obgleich ihr seine Liebe unzweifelhaft geworden war, immer noch
Gespenster in ihrem Kopfe herumspnkten, die dieser Liebe entgegentraten. Harald
hoffte von der Einsamkeit, in welcher sich jetzt das Mädchen befinden würde,
einen günstigen Erfolg; die Saat war ausgestreut, auch der gute Wille, die
Ernte vorzubereiten, schien vorhanden, und so sollte diese Einkehr bei sich selbst
die ersehnte Frucht reifen lassen. Aber wenn Vroni doch wieder schwankend
wurde, wenn sie den Verlockungen nur so lange Widerstand leisten könnte, als
ihr der Freund nahe war? Harald konnte diesen Gedanken nicht fassen, er
fühlte nur zu sehr, wie jede Fiber seines Herzens an diesem Mädchen hing.

Es ist eine weise Einrichtung der Vorsehung, daß die rauhe Wirklichkeit
des Lebens mildernd und besänftigend auf das Gemüt der Menschen wirkt.
Wohl zürnte Harald dem Schicksal, daß er mit diesen Gedanken in der Brust
am andern Morgen wieder seinen Unterricht aufzunehmen hatte; allein während
desselben vergaß er doch allmählich die Dinge, die ihn bewegten, und er ging
nach vollbrachtem Tagewerke viel ruhiger nach seinem Hanse, als er beim Ver¬
lassen desselben am Morgen gewesen war. Diese ruhigere Stimmung war es
auch, die ihn veranlaßte, von dem Briefe, den er an Vroni geplant und schon
entworfen hatte, wieder Abstand zu nehmen; er wollte ihren Willen, sich selbst
und unbeeinflußt zurecht zu finden, achten und auch so schnell das Mädchen nicht
wiedersehen. (Fortsetzung folgt.)




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[0308] Auf dem Stilfser Joch. lassen Sie mir noch etwas Zeit, mich mit mir auseinanderzusetzen, und lassen Sie uns beide auf eine schöne Zukunft hoffen. Noch hatte Harald ihre Hand im Abschicdsdrucke nicht losgelassen, da hauchte ihm Vroni einen Kuß ans die Stirn und entfloh ins Nebenzimmer. Harald kam erst spät nach Hause, sein ganzes Innere war in Aufregung geraten, und die laue Frühlingsnacht hatte bei dem Wege durch den Tiergarten alle seine Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht. Erst nach und nach ließ das Stürmen nach, und er konnte wieder ruhigere Gedanken fassen. Aber es war nicht die Freude des Sieges, die ihn überkam; nicht die Hoffnung mochte seiner Brust Heller leuchten. Denn je mehr er sich diese letzte Szene mit Vroni überlegte, umsomehr schien es ihm, als ob dieser Kuß eher das Zeichen einer ewigen Trennung, als das Signal erkannter Liebe sein sollte. Denn aus den Worten des Mädchens war es doch offenbar, daß Vroni noch immer nicht mit sich einig war, daß, obgleich ihr seine Liebe unzweifelhaft geworden war, immer noch Gespenster in ihrem Kopfe herumspnkten, die dieser Liebe entgegentraten. Harald hoffte von der Einsamkeit, in welcher sich jetzt das Mädchen befinden würde, einen günstigen Erfolg; die Saat war ausgestreut, auch der gute Wille, die Ernte vorzubereiten, schien vorhanden, und so sollte diese Einkehr bei sich selbst die ersehnte Frucht reifen lassen. Aber wenn Vroni doch wieder schwankend wurde, wenn sie den Verlockungen nur so lange Widerstand leisten könnte, als ihr der Freund nahe war? Harald konnte diesen Gedanken nicht fassen, er fühlte nur zu sehr, wie jede Fiber seines Herzens an diesem Mädchen hing. Es ist eine weise Einrichtung der Vorsehung, daß die rauhe Wirklichkeit des Lebens mildernd und besänftigend auf das Gemüt der Menschen wirkt. Wohl zürnte Harald dem Schicksal, daß er mit diesen Gedanken in der Brust am andern Morgen wieder seinen Unterricht aufzunehmen hatte; allein während desselben vergaß er doch allmählich die Dinge, die ihn bewegten, und er ging nach vollbrachtem Tagewerke viel ruhiger nach seinem Hanse, als er beim Ver¬ lassen desselben am Morgen gewesen war. Diese ruhigere Stimmung war es auch, die ihn veranlaßte, von dem Briefe, den er an Vroni geplant und schon entworfen hatte, wieder Abstand zu nehmen; er wollte ihren Willen, sich selbst und unbeeinflußt zurecht zu finden, achten und auch so schnell das Mädchen nicht wiedersehen. (Fortsetzung folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/308>, abgerufen am 15.01.2025.