Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Das Feuilleton auf dem Theater. demselben Individuum vereinigen, man untersucht, welche geistigen Fähigkeiten Es hat also wirklich den Anschein, daß es der Dialog und nur der Dialog Das Feuilleton auf dem Theater. demselben Individuum vereinigen, man untersucht, welche geistigen Fähigkeiten Es hat also wirklich den Anschein, daß es der Dialog und nur der Dialog <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197029"/> <fw type="header" place="top"> Das Feuilleton auf dem Theater.</fw><lb/> <p xml:id="ID_929" prev="#ID_928"> demselben Individuum vereinigen, man untersucht, welche geistigen Fähigkeiten<lb/> vorzugsweise zur einen oder zur andern disponiren, und gelangt zu dem Schlüsse,<lb/> daß die erstere mehr Phantasie und Geschmack, die letztere mehr Witz und<lb/> Beobachtungsgabe voraussetze. Über ihre praktische Bedeutung jedoch war man<lb/> sich damals noch durchaus klar. „Leute, die sich eines feinern Geschmacks be¬<lb/> strebten, behaupteten, daß diese Art zu dialogiren zuviel Deklamatorisches habe<lb/> und mehr in Erstaunen setze als bewege. Sie wollten lieber Auftritte haben,<lb/> in denen man sich so scharf nicht unterhält, wirkliche Auftritte, in welchen mehr<lb/> Empfindung als Dialektik herrscht." Diese Leute waren „in ihren Racine<lb/> vernarrt," und der Autor dieses Urteils, Diderot, „gesteht, daß er es auch sei."<lb/> Als aber mit Alfred de Musset die reine, nackte es.u8frio in die Pariser Theater<lb/> und sogar in das 'IllsÄtrs iraireMs triumphirend ihren Einzug hielt, als die<lb/> bestrickende Kunst pikanter Unterhaltung sich fähig erwies, die Kosten eines<lb/> Theaterabends allein zu tragen, da war ihre Prärogative entschieden; da war<lb/> nicht mehr bloß „in diesen kleinen Stücken," den xrovMvös, der Dialog Selbst¬<lb/> zweck und „von einer Handlung füglich nicht mehr die Rede," da steckte sie auch<lb/> das bei Dumas sich noch so breit und umständlich ausdrückende Sensations¬<lb/> drama der Boulevards an, und aus der Chrhsalide Scribe entfaltete sich der<lb/> herrlich schillernde Schmetterling Victorien Sardon.</p><lb/> <p xml:id="ID_930" next="#ID_931"> Es hat also wirklich den Anschein, daß es der Dialog und nur der Dialog<lb/> sei, mit dem das neueste Drama der Franzosen es uns Deutschen angethan<lb/> hat! An Stoffen und Motiven waren ja unsre Iffland und Kotzebue ihre<lb/> Muster, und Goethe bemerkt im Gespräche mit Eckermann, „daß sie sehr lange<lb/> daran werden zu pflücken haben, bis alles verbraucht sein wird." Freilich kommt<lb/> dazu noch die gerade in Deutschland entscheidende Macht des Fremden, und zwar des<lb/> „Französischen," und der nirgends seine Wirkung verfehlende Reiz des Äquivoken, des<lb/> moralisch und gesellschaftlich „Unmöglichen," das durch jene bewunderungswürdige<lb/> Kunst der muss M, 8<zönö auf der Bühne doch möglich, ja ganz natürlich gemacht<lb/> wird. Erfreut sich doch aus diesen Gründen das französische Kassenstück der<lb/> krassesten Art bei einem Institute wie dem Wiener Hofburgtheater schon seit<lb/> vielen Jahren der rührendsten, hingebendsten Pflege. Es scheint uns ein<lb/> glänzendes Verdienst des Berliner Schauspielhauses, das vielleicht gerade aus<lb/> diesem Grnnde so konsequent übersehen wird, daß es in diesem Punkte seinen<lb/> vornehmen Traditionen und dem hohen Bewußtsein seiner Stellung auch noch<lb/> nicht einen Augenblick untreu geworden ist. Auch das deutsche Publikum hat<lb/> seinen gesunden Sinn in dieser Hinsicht noch nicht gänzlich eingebüßt. Es war<lb/> uns eine wirkliche Freude, bei der ersten Aufführung eines derartigen Stückes<lb/> in einem Theater, dessen stolzer Titel zu der Bevorzugung dieses Genres in<lb/> eigentümlichem Kontraste steht, zu erleben, daß die darin gestellten Zumutungen<lb/> einem einhelligen Zischen begegneten. Man muß dem deutschen Michel eben<lb/> hcigebüchen dick kommen, bis er etwas merkt. Meistens denkt er: Was schadet</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0295]
Das Feuilleton auf dem Theater.
demselben Individuum vereinigen, man untersucht, welche geistigen Fähigkeiten
vorzugsweise zur einen oder zur andern disponiren, und gelangt zu dem Schlüsse,
daß die erstere mehr Phantasie und Geschmack, die letztere mehr Witz und
Beobachtungsgabe voraussetze. Über ihre praktische Bedeutung jedoch war man
sich damals noch durchaus klar. „Leute, die sich eines feinern Geschmacks be¬
strebten, behaupteten, daß diese Art zu dialogiren zuviel Deklamatorisches habe
und mehr in Erstaunen setze als bewege. Sie wollten lieber Auftritte haben,
in denen man sich so scharf nicht unterhält, wirkliche Auftritte, in welchen mehr
Empfindung als Dialektik herrscht." Diese Leute waren „in ihren Racine
vernarrt," und der Autor dieses Urteils, Diderot, „gesteht, daß er es auch sei."
Als aber mit Alfred de Musset die reine, nackte es.u8frio in die Pariser Theater
und sogar in das 'IllsÄtrs iraireMs triumphirend ihren Einzug hielt, als die
bestrickende Kunst pikanter Unterhaltung sich fähig erwies, die Kosten eines
Theaterabends allein zu tragen, da war ihre Prärogative entschieden; da war
nicht mehr bloß „in diesen kleinen Stücken," den xrovMvös, der Dialog Selbst¬
zweck und „von einer Handlung füglich nicht mehr die Rede," da steckte sie auch
das bei Dumas sich noch so breit und umständlich ausdrückende Sensations¬
drama der Boulevards an, und aus der Chrhsalide Scribe entfaltete sich der
herrlich schillernde Schmetterling Victorien Sardon.
Es hat also wirklich den Anschein, daß es der Dialog und nur der Dialog
sei, mit dem das neueste Drama der Franzosen es uns Deutschen angethan
hat! An Stoffen und Motiven waren ja unsre Iffland und Kotzebue ihre
Muster, und Goethe bemerkt im Gespräche mit Eckermann, „daß sie sehr lange
daran werden zu pflücken haben, bis alles verbraucht sein wird." Freilich kommt
dazu noch die gerade in Deutschland entscheidende Macht des Fremden, und zwar des
„Französischen," und der nirgends seine Wirkung verfehlende Reiz des Äquivoken, des
moralisch und gesellschaftlich „Unmöglichen," das durch jene bewunderungswürdige
Kunst der muss M, 8<zönö auf der Bühne doch möglich, ja ganz natürlich gemacht
wird. Erfreut sich doch aus diesen Gründen das französische Kassenstück der
krassesten Art bei einem Institute wie dem Wiener Hofburgtheater schon seit
vielen Jahren der rührendsten, hingebendsten Pflege. Es scheint uns ein
glänzendes Verdienst des Berliner Schauspielhauses, das vielleicht gerade aus
diesem Grnnde so konsequent übersehen wird, daß es in diesem Punkte seinen
vornehmen Traditionen und dem hohen Bewußtsein seiner Stellung auch noch
nicht einen Augenblick untreu geworden ist. Auch das deutsche Publikum hat
seinen gesunden Sinn in dieser Hinsicht noch nicht gänzlich eingebüßt. Es war
uns eine wirkliche Freude, bei der ersten Aufführung eines derartigen Stückes
in einem Theater, dessen stolzer Titel zu der Bevorzugung dieses Genres in
eigentümlichem Kontraste steht, zu erleben, daß die darin gestellten Zumutungen
einem einhelligen Zischen begegneten. Man muß dem deutschen Michel eben
hcigebüchen dick kommen, bis er etwas merkt. Meistens denkt er: Was schadet
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