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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Das Feuilleton auf dem Theater.

Zu Anfang der siebziger Jahre gingen als Nachzügler des siegreichen
deutschen Heeres eine Reihe deutscher Schriftsteller über den Rhein und erbeuteten
dort als geistiges Pendant zu den fünf Milliarden die unerschöpflichen Schätze^
welche die Dramenfabriken des Bürgerkönigtums und des zweiten Kaiserreichs
hier aufgestapelt hatten. Es wäre Ungerechtigkeit, ihnen vorzuwerfen, daß sie
mit dem importirten Kapital schlecht gewirtschaftet oder es unzweckmäßig an¬
gelegt hätten. Im Nu hatten wir in der Hauptstadt des neuen deutschen
Reiches eine Bühne, welche sich die Pflege seiner Interessen zur einzigen Aufgabe
machte, die bekannte Universalbibliothek übernahm in mehr oder minder schlechten
Übersetzungen den Detailvertrieb in den Provinzen, und in der Presse, nicht
bloß in der belletristischen, sondern auch in den untern Regionen der gesamten
politischen, wimmelt es seitdem von den Fachausdrücken der neuen dramaturgischen
Börse,' von der "großen Szene" (der seöns g. ^irg), dem Aktschluß, dem Dialog.

Es liegt uns fern, die schätzenswerten Qualitäten der Pariser dramatischen
Firmen seit Scribe u. Co. und Dumas üls zu übersehen. Ohne Frage steckt in
ihnen ein gutes Teil jenes genialen Blickes für die luisv su svons in Politik,
Kunst und Gesellschaft, der die Nation bis auf den heutigen Tag zur Be¬
herrscherin der Mode, ein gutes Teil jener feinfühligen Kenntnis des Publikums
und seiner Bedürfnisse, die ihre Schriftsteller zwei Jahrhunderte lang zu Be¬
herrschern der europäischen Literaturen gemacht hat. Bekanntlich beruhte dies
literarische Prestige zum größten Teile auf ihrem Theater. Das Theater des
Corneille und Moliere und das "Theater des Herrn Diderot" (um die Ver¬
treter des bürgerlichen Dramas in einem Namen zusammenzufassen) hat zweimal
Epoche gemacht in der europäischen Literatur und vornehmlich in der deutschen.
Beide verdanken ihren Erfolg eingestandenermaßen hauptsächlich den Spitzen
und Feinheiten, der Armut und Lebendigkeit, dem Pathos, der hinreißenden
Gewalt des -- Dialogs.

Ja die Franzosen, die nach Gottsched "heutzutage das sind, was dazumal
die Griechen waren," die Franzosen haben sich wahrscheinlich aus diesem Grunde
die Freiheit genommen, das alte Wort umzuprägen und es in ihren dramaturgischen
Jargon einzuführen. Sie verwendeten, selbständiger als wir Deutsche, für die
eigentliche Bedeutung ihr eignes Wort "zirtrstiev, für die />.e5eg des alten Weisen
aber, dessen Namen sie ihrem zum Teil selbstgeschaffnen dramatischen Vogelschreck
als Autoritätsmäntelchen umhängte", brauchten sie das nach ihrer Ansicht be¬
zeichnendere Fremdwort all-iloZus.

Unglaublich viel ist schon in der ältern französischen Poetik die Rede vom
clmlog'ne und seinen Feinheiten, von seinen großen Meistern in den beiden Genres,
Corneille und Moliere, die dnrch diese bewunderungswürdige Kunst über die
bedenklichsten ihrer Pläne und Entwicklungen hinwegtäuschten. Man streitet
sich darüber, ob die Kunst des Dessinirens oder die des Dialvgirens größer
sei, man formirt für beide besondre Talente und findet, daß sie sich selten in


Das Feuilleton auf dem Theater.

Zu Anfang der siebziger Jahre gingen als Nachzügler des siegreichen
deutschen Heeres eine Reihe deutscher Schriftsteller über den Rhein und erbeuteten
dort als geistiges Pendant zu den fünf Milliarden die unerschöpflichen Schätze^
welche die Dramenfabriken des Bürgerkönigtums und des zweiten Kaiserreichs
hier aufgestapelt hatten. Es wäre Ungerechtigkeit, ihnen vorzuwerfen, daß sie
mit dem importirten Kapital schlecht gewirtschaftet oder es unzweckmäßig an¬
gelegt hätten. Im Nu hatten wir in der Hauptstadt des neuen deutschen
Reiches eine Bühne, welche sich die Pflege seiner Interessen zur einzigen Aufgabe
machte, die bekannte Universalbibliothek übernahm in mehr oder minder schlechten
Übersetzungen den Detailvertrieb in den Provinzen, und in der Presse, nicht
bloß in der belletristischen, sondern auch in den untern Regionen der gesamten
politischen, wimmelt es seitdem von den Fachausdrücken der neuen dramaturgischen
Börse,' von der „großen Szene" (der seöns g. ^irg), dem Aktschluß, dem Dialog.

Es liegt uns fern, die schätzenswerten Qualitäten der Pariser dramatischen
Firmen seit Scribe u. Co. und Dumas üls zu übersehen. Ohne Frage steckt in
ihnen ein gutes Teil jenes genialen Blickes für die luisv su svons in Politik,
Kunst und Gesellschaft, der die Nation bis auf den heutigen Tag zur Be¬
herrscherin der Mode, ein gutes Teil jener feinfühligen Kenntnis des Publikums
und seiner Bedürfnisse, die ihre Schriftsteller zwei Jahrhunderte lang zu Be¬
herrschern der europäischen Literaturen gemacht hat. Bekanntlich beruhte dies
literarische Prestige zum größten Teile auf ihrem Theater. Das Theater des
Corneille und Moliere und das „Theater des Herrn Diderot" (um die Ver¬
treter des bürgerlichen Dramas in einem Namen zusammenzufassen) hat zweimal
Epoche gemacht in der europäischen Literatur und vornehmlich in der deutschen.
Beide verdanken ihren Erfolg eingestandenermaßen hauptsächlich den Spitzen
und Feinheiten, der Armut und Lebendigkeit, dem Pathos, der hinreißenden
Gewalt des — Dialogs.

Ja die Franzosen, die nach Gottsched „heutzutage das sind, was dazumal
die Griechen waren," die Franzosen haben sich wahrscheinlich aus diesem Grunde
die Freiheit genommen, das alte Wort umzuprägen und es in ihren dramaturgischen
Jargon einzuführen. Sie verwendeten, selbständiger als wir Deutsche, für die
eigentliche Bedeutung ihr eignes Wort «zirtrstiev, für die />.e5eg des alten Weisen
aber, dessen Namen sie ihrem zum Teil selbstgeschaffnen dramatischen Vogelschreck
als Autoritätsmäntelchen umhängte», brauchten sie das nach ihrer Ansicht be¬
zeichnendere Fremdwort all-iloZus.

Unglaublich viel ist schon in der ältern französischen Poetik die Rede vom
clmlog'ne und seinen Feinheiten, von seinen großen Meistern in den beiden Genres,
Corneille und Moliere, die dnrch diese bewunderungswürdige Kunst über die
bedenklichsten ihrer Pläne und Entwicklungen hinwegtäuschten. Man streitet
sich darüber, ob die Kunst des Dessinirens oder die des Dialvgirens größer
sei, man formirt für beide besondre Talente und findet, daß sie sich selten in


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[0294] Das Feuilleton auf dem Theater. Zu Anfang der siebziger Jahre gingen als Nachzügler des siegreichen deutschen Heeres eine Reihe deutscher Schriftsteller über den Rhein und erbeuteten dort als geistiges Pendant zu den fünf Milliarden die unerschöpflichen Schätze^ welche die Dramenfabriken des Bürgerkönigtums und des zweiten Kaiserreichs hier aufgestapelt hatten. Es wäre Ungerechtigkeit, ihnen vorzuwerfen, daß sie mit dem importirten Kapital schlecht gewirtschaftet oder es unzweckmäßig an¬ gelegt hätten. Im Nu hatten wir in der Hauptstadt des neuen deutschen Reiches eine Bühne, welche sich die Pflege seiner Interessen zur einzigen Aufgabe machte, die bekannte Universalbibliothek übernahm in mehr oder minder schlechten Übersetzungen den Detailvertrieb in den Provinzen, und in der Presse, nicht bloß in der belletristischen, sondern auch in den untern Regionen der gesamten politischen, wimmelt es seitdem von den Fachausdrücken der neuen dramaturgischen Börse,' von der „großen Szene" (der seöns g. ^irg), dem Aktschluß, dem Dialog. Es liegt uns fern, die schätzenswerten Qualitäten der Pariser dramatischen Firmen seit Scribe u. Co. und Dumas üls zu übersehen. Ohne Frage steckt in ihnen ein gutes Teil jenes genialen Blickes für die luisv su svons in Politik, Kunst und Gesellschaft, der die Nation bis auf den heutigen Tag zur Be¬ herrscherin der Mode, ein gutes Teil jener feinfühligen Kenntnis des Publikums und seiner Bedürfnisse, die ihre Schriftsteller zwei Jahrhunderte lang zu Be¬ herrschern der europäischen Literaturen gemacht hat. Bekanntlich beruhte dies literarische Prestige zum größten Teile auf ihrem Theater. Das Theater des Corneille und Moliere und das „Theater des Herrn Diderot" (um die Ver¬ treter des bürgerlichen Dramas in einem Namen zusammenzufassen) hat zweimal Epoche gemacht in der europäischen Literatur und vornehmlich in der deutschen. Beide verdanken ihren Erfolg eingestandenermaßen hauptsächlich den Spitzen und Feinheiten, der Armut und Lebendigkeit, dem Pathos, der hinreißenden Gewalt des — Dialogs. Ja die Franzosen, die nach Gottsched „heutzutage das sind, was dazumal die Griechen waren," die Franzosen haben sich wahrscheinlich aus diesem Grunde die Freiheit genommen, das alte Wort umzuprägen und es in ihren dramaturgischen Jargon einzuführen. Sie verwendeten, selbständiger als wir Deutsche, für die eigentliche Bedeutung ihr eignes Wort «zirtrstiev, für die />.e5eg des alten Weisen aber, dessen Namen sie ihrem zum Teil selbstgeschaffnen dramatischen Vogelschreck als Autoritätsmäntelchen umhängte», brauchten sie das nach ihrer Ansicht be¬ zeichnendere Fremdwort all-iloZus. Unglaublich viel ist schon in der ältern französischen Poetik die Rede vom clmlog'ne und seinen Feinheiten, von seinen großen Meistern in den beiden Genres, Corneille und Moliere, die dnrch diese bewunderungswürdige Kunst über die bedenklichsten ihrer Pläne und Entwicklungen hinwegtäuschten. Man streitet sich darüber, ob die Kunst des Dessinirens oder die des Dialvgirens größer sei, man formirt für beide besondre Talente und findet, daß sie sich selten in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/294>, abgerufen am 15.01.2025.