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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts.

weniger zogen die mächtigen Fortschritte in den -Naturwissenschaften und die
gewaltigen Erschütterungen, welche jetzt anfingen, die politische wie die religiös¬
kirchliche Welt in Bewegung zu setze", die Aufmerksamkeit der Gebildeten von
der Altertumswissenschaft ab; dasselbe Aufsehe" in der litterarischen Welt,
welches einst Wolfs Prolegomena oder die Homerübersetzung von Voß erregten,
ernteten jetzt Strauß' Leben Jesu oder die politischen Tagesschriften und Tages¬
dichter. Wie die Philologen jetzt uicht mehr für einen größern Leserkreis,
sondern nur für die Fachgenossen schrieben, so lasen jetzt die Professoren ihre
philologischen Kollegien nur noch für die Studenten der Philologie.

An die Schule begann man jetzt andre Anforderungen zu stellen, und das
umso entschiedener, je mehr die neue Regierung entgegengesetzte Ansichten ver¬
trat. Des Königs persönliche Ansicht war, nicht "Bildung," sondern "Ge¬
sinnung" mache den tüchtigen Mann. Hatten unter Schulze vollkommene Schul¬
pläne, streng geregelte Aufsicht den Erfolg sicher" wolle", so ging die Ansicht
der neuen Negierung dahin, daß alles auf die Auswahl tüchtiger Persönlichkeiten
und auf persönliche Einwirkung ankomme. Ein von einer der Regierung nahe¬
stehender Seite eröffneter Angriff auf das unchristliche und unkirchliche Philv-
logentum und auf in den Gymnasien herrschenden antik-heidnischen Geist ward
lebhaft, wenn auch nicht gerade glücklich zurückgewiesen. Wichtige Ministerial-
vervrdnungen über das Schulwesen sind in dieser Zeit nicht ergangen, da man
eben nicht durch Verfügungen, sonder" dnrch persönlichen Einfluß wirke" wollte,
freilich ohne irgend welchen hervorstechenden Erfolg; eins hatte dagegen die Re¬
gierung sicher erreicht: die Feindschaft der von ihr bekämpften Richtungen, der
Hegelianer wie der rationalistischen Theologen, der humanistischen Philologen
wie der Naturforscher. Die Revolutivnsjahre von 1848 und 1849 lassen in
den Lehrerkreisen namentlich ein Bestreben sichtbar werden, die letzten Bande,
welche die Schule an die Kirche und Gemeinde fesseln, zu löse", die Schule
vollständig zu verstaatlichen und dabei den Lehrer in der Schule selbständiger
zu machen. In Betreff des Unterichts verlangt man Beschränkung des Latein
zu Gunsten des Griechischen, Herabsetzung der Stundenzahl für den altsprach¬
lichen Unterricht und Vermehrung der Stundenzahl im Deutschen und in den
Naturwissenschaften. Diese Forderungen traten insbesondre auf der Ghmuasial-
lchrerversammlung zu Meißen (unter der Führung Köchlys) und auf der preu¬
ßischen Landesschnlkonferenz zu Tage. Die Bewegung blieb für Norddeutschland
ohne Folgen, mit der Revolution schwanden auch die gymnasialrcformatorischen
Ideen. Anders dagegen in Osterreich. Hier hatten in diesen Jahren Bonitz
und Exner eine Reform des Ghmnasialnnterrichts unternommen, im Unterrichte
wird großes Gewicht auf Mathematik und Naturwissenschaften gelegt, darin
unterscheidet sich auch hauptsächlich der österreichische Lehrplan vom Jahre 1843
von dem preußischen ans dem Jahre 1816. Während also Preußen in dieser
Zeit strebte, von der Allseitigkeit des Lehrplanes von 1816 nach Möglichkeit


Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts.

weniger zogen die mächtigen Fortschritte in den -Naturwissenschaften und die
gewaltigen Erschütterungen, welche jetzt anfingen, die politische wie die religiös¬
kirchliche Welt in Bewegung zu setze», die Aufmerksamkeit der Gebildeten von
der Altertumswissenschaft ab; dasselbe Aufsehe» in der litterarischen Welt,
welches einst Wolfs Prolegomena oder die Homerübersetzung von Voß erregten,
ernteten jetzt Strauß' Leben Jesu oder die politischen Tagesschriften und Tages¬
dichter. Wie die Philologen jetzt uicht mehr für einen größern Leserkreis,
sondern nur für die Fachgenossen schrieben, so lasen jetzt die Professoren ihre
philologischen Kollegien nur noch für die Studenten der Philologie.

An die Schule begann man jetzt andre Anforderungen zu stellen, und das
umso entschiedener, je mehr die neue Regierung entgegengesetzte Ansichten ver¬
trat. Des Königs persönliche Ansicht war, nicht „Bildung," sondern „Ge¬
sinnung" mache den tüchtigen Mann. Hatten unter Schulze vollkommene Schul¬
pläne, streng geregelte Aufsicht den Erfolg sicher» wolle», so ging die Ansicht
der neuen Negierung dahin, daß alles auf die Auswahl tüchtiger Persönlichkeiten
und auf persönliche Einwirkung ankomme. Ein von einer der Regierung nahe¬
stehender Seite eröffneter Angriff auf das unchristliche und unkirchliche Philv-
logentum und auf in den Gymnasien herrschenden antik-heidnischen Geist ward
lebhaft, wenn auch nicht gerade glücklich zurückgewiesen. Wichtige Ministerial-
vervrdnungen über das Schulwesen sind in dieser Zeit nicht ergangen, da man
eben nicht durch Verfügungen, sonder» dnrch persönlichen Einfluß wirke» wollte,
freilich ohne irgend welchen hervorstechenden Erfolg; eins hatte dagegen die Re¬
gierung sicher erreicht: die Feindschaft der von ihr bekämpften Richtungen, der
Hegelianer wie der rationalistischen Theologen, der humanistischen Philologen
wie der Naturforscher. Die Revolutivnsjahre von 1848 und 1849 lassen in
den Lehrerkreisen namentlich ein Bestreben sichtbar werden, die letzten Bande,
welche die Schule an die Kirche und Gemeinde fesseln, zu löse«, die Schule
vollständig zu verstaatlichen und dabei den Lehrer in der Schule selbständiger
zu machen. In Betreff des Unterichts verlangt man Beschränkung des Latein
zu Gunsten des Griechischen, Herabsetzung der Stundenzahl für den altsprach¬
lichen Unterricht und Vermehrung der Stundenzahl im Deutschen und in den
Naturwissenschaften. Diese Forderungen traten insbesondre auf der Ghmuasial-
lchrerversammlung zu Meißen (unter der Führung Köchlys) und auf der preu¬
ßischen Landesschnlkonferenz zu Tage. Die Bewegung blieb für Norddeutschland
ohne Folgen, mit der Revolution schwanden auch die gymnasialrcformatorischen
Ideen. Anders dagegen in Osterreich. Hier hatten in diesen Jahren Bonitz
und Exner eine Reform des Ghmnasialnnterrichts unternommen, im Unterrichte
wird großes Gewicht auf Mathematik und Naturwissenschaften gelegt, darin
unterscheidet sich auch hauptsächlich der österreichische Lehrplan vom Jahre 1843
von dem preußischen ans dem Jahre 1816. Während also Preußen in dieser
Zeit strebte, von der Allseitigkeit des Lehrplanes von 1816 nach Möglichkeit


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[0284] Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts. weniger zogen die mächtigen Fortschritte in den -Naturwissenschaften und die gewaltigen Erschütterungen, welche jetzt anfingen, die politische wie die religiös¬ kirchliche Welt in Bewegung zu setze», die Aufmerksamkeit der Gebildeten von der Altertumswissenschaft ab; dasselbe Aufsehe» in der litterarischen Welt, welches einst Wolfs Prolegomena oder die Homerübersetzung von Voß erregten, ernteten jetzt Strauß' Leben Jesu oder die politischen Tagesschriften und Tages¬ dichter. Wie die Philologen jetzt uicht mehr für einen größern Leserkreis, sondern nur für die Fachgenossen schrieben, so lasen jetzt die Professoren ihre philologischen Kollegien nur noch für die Studenten der Philologie. An die Schule begann man jetzt andre Anforderungen zu stellen, und das umso entschiedener, je mehr die neue Regierung entgegengesetzte Ansichten ver¬ trat. Des Königs persönliche Ansicht war, nicht „Bildung," sondern „Ge¬ sinnung" mache den tüchtigen Mann. Hatten unter Schulze vollkommene Schul¬ pläne, streng geregelte Aufsicht den Erfolg sicher» wolle», so ging die Ansicht der neuen Negierung dahin, daß alles auf die Auswahl tüchtiger Persönlichkeiten und auf persönliche Einwirkung ankomme. Ein von einer der Regierung nahe¬ stehender Seite eröffneter Angriff auf das unchristliche und unkirchliche Philv- logentum und auf in den Gymnasien herrschenden antik-heidnischen Geist ward lebhaft, wenn auch nicht gerade glücklich zurückgewiesen. Wichtige Ministerial- vervrdnungen über das Schulwesen sind in dieser Zeit nicht ergangen, da man eben nicht durch Verfügungen, sonder» dnrch persönlichen Einfluß wirke» wollte, freilich ohne irgend welchen hervorstechenden Erfolg; eins hatte dagegen die Re¬ gierung sicher erreicht: die Feindschaft der von ihr bekämpften Richtungen, der Hegelianer wie der rationalistischen Theologen, der humanistischen Philologen wie der Naturforscher. Die Revolutivnsjahre von 1848 und 1849 lassen in den Lehrerkreisen namentlich ein Bestreben sichtbar werden, die letzten Bande, welche die Schule an die Kirche und Gemeinde fesseln, zu löse«, die Schule vollständig zu verstaatlichen und dabei den Lehrer in der Schule selbständiger zu machen. In Betreff des Unterichts verlangt man Beschränkung des Latein zu Gunsten des Griechischen, Herabsetzung der Stundenzahl für den altsprach¬ lichen Unterricht und Vermehrung der Stundenzahl im Deutschen und in den Naturwissenschaften. Diese Forderungen traten insbesondre auf der Ghmuasial- lchrerversammlung zu Meißen (unter der Führung Köchlys) und auf der preu¬ ßischen Landesschnlkonferenz zu Tage. Die Bewegung blieb für Norddeutschland ohne Folgen, mit der Revolution schwanden auch die gymnasialrcformatorischen Ideen. Anders dagegen in Osterreich. Hier hatten in diesen Jahren Bonitz und Exner eine Reform des Ghmnasialnnterrichts unternommen, im Unterrichte wird großes Gewicht auf Mathematik und Naturwissenschaften gelegt, darin unterscheidet sich auch hauptsächlich der österreichische Lehrplan vom Jahre 1843 von dem preußischen ans dem Jahre 1816. Während also Preußen in dieser Zeit strebte, von der Allseitigkeit des Lehrplanes von 1816 nach Möglichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/284>, abgerufen am 15.01.2025.