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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Frage der Arbeitorwohnungen.

genommene System des Eigenwmserwerbes thatsächlich geholfen werden würde.
"In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister," wird mancher sagen. Die
Gründe sür diese Art der Beschränkung finden sich jedoch nirgends in dem
Aufrufe, im Gegenteil die nachfolgende Lektüre der Statuten enttäuscht vielmehr,
weil man ein höheres Streben erwartet hat. Richtig ist allerdings, daß schon
viel erreicht ist, wenn nur den bestgestellten und gesittetsten Arbeitern die helfende
Hand gereicht wird. Die langsame Rückwirkung auf einen Teil der übrigen
wird auch nicht ausbleiben. Alles wird niemand von dem Vereine verlangen,
aber wenn etwas geschieht, warum daun nicht das Nötigste zuerst?

Der Verein muß, um Erhebliches leisten zu können, seinen Lokalvcrcinen
mehr Freiheit geben, diese müssen neben den "Einfamilienhäusern" vor allem auch
große, mehrstöckige Häuser zur Vermietung an mehrere oder diele ärmere Familien
bauen, beziehungsweise kaufen und Herrichten können. Das Risiko ist kein größeres,
die gute Organisation des Vereins wird erst dann völlig ausgenutzt. Würde der
Verein "Arbeiterheim" es auf die Dauer ablehnen, seine Thätigkeit so auszu¬
breiten, so müßte geradezu noch ein zweiter ähnlicher Verein ins Leben ge¬
rufen werden. Wozu aber solche Kraftverschwendung und Zersplitterung?

Das Bessere ist der Feind des Guten. Nicht einmal in den höheren
Ständen hat der größere Teil der Familien in Deutschland ein Heim "auf
eigner Scholle," sondern wohnt zur Miete, und selbst in England, wo die
allgemeine Sitte die "Mietkasernen" verwirft, hat man sich entschließen müssen,
für die untern Klassen (neben den "Cottagcs" für die Bemittelteren) solche
Bauten zu errichten, wenn man überhaupt etwas erreichen wollte. Ein schönes
Familienleben hat wohl eine gute Wohnung, aber nicht ein eignes Haus zur
Bedingung.

Die Vorteile der mehrstöckigen Bauten liegen auf der Hand. Teurer
Grund und Boden wird besser ausgenutzt, und die Arbeiter finden in passender
Gegend billige Wohnung, in welcher sie sich sonst in Winkeln und engen Gassen
zusammendrängen. Wird in London ein größerer Hüuserkomplcx niedergerissen,
um neuen Gebäuden, Straßen, Bahnen u. dergl. Platz zu machen, so muß
nach den neuern Gesetzen mindestens die Hälfte der früher dort wohnenden
Arbeiterbevölkerung auf demselben Flecke oder in nächster Nähe wieder ange¬
siedelt werden,*) weil die parlamentarischen Enqueten unzweifelhaft die Not¬
wendigkeit dieser Beschränkung ergeben haben. Bei den hohen Bodenpreisen
und dem geringen verfügbaren Raume bleibt natürlich mir der Bau und die



*) Der Mangel einer ähnlichen Bestimmung in Deutschland erzeugt alljährlich viel neues
Elend. In der Stadt Hannover z, B. war infolge solcher Ereignisse die Wohnungsnot so¬
weit vorgeschritten, daß zeitweise der Magistrat für die Unterbringung der Leute in öffentlichen
Gebäuden hat sorgen müssen. In Berlin werden vermutlich schon in nächster Zeit ähnliche
Zustände schreiend hervortreten. Allmählich "verschwindet" dann nach solchen Ereignissen die
Wohnungsnot,- d. h. die Massen drängen sich in die schon überfüllten alten Quartiere.
Zur Frage der Arbeitorwohnungen.

genommene System des Eigenwmserwerbes thatsächlich geholfen werden würde.
„In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister," wird mancher sagen. Die
Gründe sür diese Art der Beschränkung finden sich jedoch nirgends in dem
Aufrufe, im Gegenteil die nachfolgende Lektüre der Statuten enttäuscht vielmehr,
weil man ein höheres Streben erwartet hat. Richtig ist allerdings, daß schon
viel erreicht ist, wenn nur den bestgestellten und gesittetsten Arbeitern die helfende
Hand gereicht wird. Die langsame Rückwirkung auf einen Teil der übrigen
wird auch nicht ausbleiben. Alles wird niemand von dem Vereine verlangen,
aber wenn etwas geschieht, warum daun nicht das Nötigste zuerst?

Der Verein muß, um Erhebliches leisten zu können, seinen Lokalvcrcinen
mehr Freiheit geben, diese müssen neben den „Einfamilienhäusern" vor allem auch
große, mehrstöckige Häuser zur Vermietung an mehrere oder diele ärmere Familien
bauen, beziehungsweise kaufen und Herrichten können. Das Risiko ist kein größeres,
die gute Organisation des Vereins wird erst dann völlig ausgenutzt. Würde der
Verein „Arbeiterheim" es auf die Dauer ablehnen, seine Thätigkeit so auszu¬
breiten, so müßte geradezu noch ein zweiter ähnlicher Verein ins Leben ge¬
rufen werden. Wozu aber solche Kraftverschwendung und Zersplitterung?

Das Bessere ist der Feind des Guten. Nicht einmal in den höheren
Ständen hat der größere Teil der Familien in Deutschland ein Heim „auf
eigner Scholle," sondern wohnt zur Miete, und selbst in England, wo die
allgemeine Sitte die „Mietkasernen" verwirft, hat man sich entschließen müssen,
für die untern Klassen (neben den „Cottagcs" für die Bemittelteren) solche
Bauten zu errichten, wenn man überhaupt etwas erreichen wollte. Ein schönes
Familienleben hat wohl eine gute Wohnung, aber nicht ein eignes Haus zur
Bedingung.

Die Vorteile der mehrstöckigen Bauten liegen auf der Hand. Teurer
Grund und Boden wird besser ausgenutzt, und die Arbeiter finden in passender
Gegend billige Wohnung, in welcher sie sich sonst in Winkeln und engen Gassen
zusammendrängen. Wird in London ein größerer Hüuserkomplcx niedergerissen,
um neuen Gebäuden, Straßen, Bahnen u. dergl. Platz zu machen, so muß
nach den neuern Gesetzen mindestens die Hälfte der früher dort wohnenden
Arbeiterbevölkerung auf demselben Flecke oder in nächster Nähe wieder ange¬
siedelt werden,*) weil die parlamentarischen Enqueten unzweifelhaft die Not¬
wendigkeit dieser Beschränkung ergeben haben. Bei den hohen Bodenpreisen
und dem geringen verfügbaren Raume bleibt natürlich mir der Bau und die



*) Der Mangel einer ähnlichen Bestimmung in Deutschland erzeugt alljährlich viel neues
Elend. In der Stadt Hannover z, B. war infolge solcher Ereignisse die Wohnungsnot so¬
weit vorgeschritten, daß zeitweise der Magistrat für die Unterbringung der Leute in öffentlichen
Gebäuden hat sorgen müssen. In Berlin werden vermutlich schon in nächster Zeit ähnliche
Zustände schreiend hervortreten. Allmählich „verschwindet" dann nach solchen Ereignissen die
Wohnungsnot,- d. h. die Massen drängen sich in die schon überfüllten alten Quartiere.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/245>, abgerufen am 15.01.2025.