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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Frage der Arbeiterwohnungen

nicht bestimmt, ohne Hilfe bleiben sie in ihren dumpfen, überfüllten Woh¬
nungen.

Der Verein hat richtig erkannt, daß nur Lokalvercine für den Bau von
Wohnungen sorgen können entsprechend deu lokalen Verhältnissen. Warum bindet
er diesen durch das Statut die Hände und gestattet ihnen nur, statt selbst zu
bauen, strebsamen Arbeitern zum Bau Kapital gegen Sicherheit vorzuschießen,
eine Maßregel, von deren Wirkungslosigkeit in deu meisten Fällen er selbst, nach
seinem Aufrufe zu schließen, überzeugt ist? Will der Verein seinen Worten
gemäß "den zerfallenen häuslichen Herd unter deu Fabrikarbeitern falso einer
ganzen Klasse^ wiederherstellen und aufrichten," so kann er sich der Notwendigkeit
nicht verschließen, billige und gesunde Mietwohnungen zu bauen oder neue
herzurichten, sei es in großen oder kleinen Häusern.

Die Zahl der Arbeiter, für welche der Verein nach seinem gegenwärtigen
Statutenentwurfe Wohnungen beschaffen würde, ist aus folgenden Gründen gering.

Allgemeiner Hauptgrund ist die thatsächliche Mittellosigkeit der meisten
Lohnarbeiter. Selbst die sparsamen unter ihnen legen nur in wenigen Fällen
jährlich eine Summe zurück, welche im Laufe der Jahre zu einem Kapital von
mehr als einigen hundert Mark anwächst. Die Annahme des Vereins, daß im
"günstigen Falle" binnen sechs bis acht Jahren durch Zahlung des halben
Kapitalwertes (neben der Miete) möglicherweise junge Arbeiter Hauseigentümer
werden könnten, wird fast nie eintreten, denn das erforderte ein Zurücklegen von
einigen hundert Mark jährlich. Einige wenige sind, wenn sie wollen, imstande,
soviel zu sparen. Die Wvhnungsreform kaun aber ebensowenig auf eine all¬
gemeine Steigerung der Lohnhöhe wie des Sparsamkeitssinnes warten, wenn sie
beides auch immerhin zu fördern vermag.

Insbesondre ist das System in großen Städten, welche die schlimmsten
Wohnungszustände bergen, schwer durchführbar. Der hohen Bodenpreise wegen
können die Arbeiter in kleinen Häusern nur in den äußersten Vorstädten oft
weit von der Fabrik angesiedelt werden. Billige Verkehrsmittel sind Vor¬
bedingung, und diese verteuern die Wohnung erheblich. Eine Ausgabe von zehn
bis zwölf Pfennigen täglich allein für die Fahrt des Familienhauptes ist nichts
geringes. Dazu kommt die Entfernung von den Märkten (Erhöhung der
Lebcnsmittelpreise durch Kleinkrämer!), die Unmöglichkeit kleinen Nebenverdienstes
für Frau und ältere Kinder, welcher sich in der Regel findet, wenn die
Wohnung mehr in der Nähe wohlhabender Quartiere liegt.

Gänzlich ungeeignet ist das System des Eigentumserwcrbes endlich da, wo
der Arbeiter nicht dauernde Arbeit hat oder auf einen oder wenige Arbeitgeber
angewiesen ist, dadurch unter Umständen in ein gefährliches Abhängigkeitsver-
hciltnis geraten kann oder sein Haus unter allen Umständen losschlagen muß.

Aus dem Gesagten, das den Gegenstand keineswegs erschöpft, geht zur
Genüge hervor, wie beschränkt die Anzahl derer ist, welchen dnrch das in Aussicht


Zur Frage der Arbeiterwohnungen

nicht bestimmt, ohne Hilfe bleiben sie in ihren dumpfen, überfüllten Woh¬
nungen.

Der Verein hat richtig erkannt, daß nur Lokalvercine für den Bau von
Wohnungen sorgen können entsprechend deu lokalen Verhältnissen. Warum bindet
er diesen durch das Statut die Hände und gestattet ihnen nur, statt selbst zu
bauen, strebsamen Arbeitern zum Bau Kapital gegen Sicherheit vorzuschießen,
eine Maßregel, von deren Wirkungslosigkeit in deu meisten Fällen er selbst, nach
seinem Aufrufe zu schließen, überzeugt ist? Will der Verein seinen Worten
gemäß „den zerfallenen häuslichen Herd unter deu Fabrikarbeitern falso einer
ganzen Klasse^ wiederherstellen und aufrichten," so kann er sich der Notwendigkeit
nicht verschließen, billige und gesunde Mietwohnungen zu bauen oder neue
herzurichten, sei es in großen oder kleinen Häusern.

Die Zahl der Arbeiter, für welche der Verein nach seinem gegenwärtigen
Statutenentwurfe Wohnungen beschaffen würde, ist aus folgenden Gründen gering.

Allgemeiner Hauptgrund ist die thatsächliche Mittellosigkeit der meisten
Lohnarbeiter. Selbst die sparsamen unter ihnen legen nur in wenigen Fällen
jährlich eine Summe zurück, welche im Laufe der Jahre zu einem Kapital von
mehr als einigen hundert Mark anwächst. Die Annahme des Vereins, daß im
„günstigen Falle" binnen sechs bis acht Jahren durch Zahlung des halben
Kapitalwertes (neben der Miete) möglicherweise junge Arbeiter Hauseigentümer
werden könnten, wird fast nie eintreten, denn das erforderte ein Zurücklegen von
einigen hundert Mark jährlich. Einige wenige sind, wenn sie wollen, imstande,
soviel zu sparen. Die Wvhnungsreform kaun aber ebensowenig auf eine all¬
gemeine Steigerung der Lohnhöhe wie des Sparsamkeitssinnes warten, wenn sie
beides auch immerhin zu fördern vermag.

Insbesondre ist das System in großen Städten, welche die schlimmsten
Wohnungszustände bergen, schwer durchführbar. Der hohen Bodenpreise wegen
können die Arbeiter in kleinen Häusern nur in den äußersten Vorstädten oft
weit von der Fabrik angesiedelt werden. Billige Verkehrsmittel sind Vor¬
bedingung, und diese verteuern die Wohnung erheblich. Eine Ausgabe von zehn
bis zwölf Pfennigen täglich allein für die Fahrt des Familienhauptes ist nichts
geringes. Dazu kommt die Entfernung von den Märkten (Erhöhung der
Lebcnsmittelpreise durch Kleinkrämer!), die Unmöglichkeit kleinen Nebenverdienstes
für Frau und ältere Kinder, welcher sich in der Regel findet, wenn die
Wohnung mehr in der Nähe wohlhabender Quartiere liegt.

Gänzlich ungeeignet ist das System des Eigentumserwcrbes endlich da, wo
der Arbeiter nicht dauernde Arbeit hat oder auf einen oder wenige Arbeitgeber
angewiesen ist, dadurch unter Umständen in ein gefährliches Abhängigkeitsver-
hciltnis geraten kann oder sein Haus unter allen Umständen losschlagen muß.

Aus dem Gesagten, das den Gegenstand keineswegs erschöpft, geht zur
Genüge hervor, wie beschränkt die Anzahl derer ist, welchen dnrch das in Aussicht


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[0244] Zur Frage der Arbeiterwohnungen nicht bestimmt, ohne Hilfe bleiben sie in ihren dumpfen, überfüllten Woh¬ nungen. Der Verein hat richtig erkannt, daß nur Lokalvercine für den Bau von Wohnungen sorgen können entsprechend deu lokalen Verhältnissen. Warum bindet er diesen durch das Statut die Hände und gestattet ihnen nur, statt selbst zu bauen, strebsamen Arbeitern zum Bau Kapital gegen Sicherheit vorzuschießen, eine Maßregel, von deren Wirkungslosigkeit in deu meisten Fällen er selbst, nach seinem Aufrufe zu schließen, überzeugt ist? Will der Verein seinen Worten gemäß „den zerfallenen häuslichen Herd unter deu Fabrikarbeitern falso einer ganzen Klasse^ wiederherstellen und aufrichten," so kann er sich der Notwendigkeit nicht verschließen, billige und gesunde Mietwohnungen zu bauen oder neue herzurichten, sei es in großen oder kleinen Häusern. Die Zahl der Arbeiter, für welche der Verein nach seinem gegenwärtigen Statutenentwurfe Wohnungen beschaffen würde, ist aus folgenden Gründen gering. Allgemeiner Hauptgrund ist die thatsächliche Mittellosigkeit der meisten Lohnarbeiter. Selbst die sparsamen unter ihnen legen nur in wenigen Fällen jährlich eine Summe zurück, welche im Laufe der Jahre zu einem Kapital von mehr als einigen hundert Mark anwächst. Die Annahme des Vereins, daß im „günstigen Falle" binnen sechs bis acht Jahren durch Zahlung des halben Kapitalwertes (neben der Miete) möglicherweise junge Arbeiter Hauseigentümer werden könnten, wird fast nie eintreten, denn das erforderte ein Zurücklegen von einigen hundert Mark jährlich. Einige wenige sind, wenn sie wollen, imstande, soviel zu sparen. Die Wvhnungsreform kaun aber ebensowenig auf eine all¬ gemeine Steigerung der Lohnhöhe wie des Sparsamkeitssinnes warten, wenn sie beides auch immerhin zu fördern vermag. Insbesondre ist das System in großen Städten, welche die schlimmsten Wohnungszustände bergen, schwer durchführbar. Der hohen Bodenpreise wegen können die Arbeiter in kleinen Häusern nur in den äußersten Vorstädten oft weit von der Fabrik angesiedelt werden. Billige Verkehrsmittel sind Vor¬ bedingung, und diese verteuern die Wohnung erheblich. Eine Ausgabe von zehn bis zwölf Pfennigen täglich allein für die Fahrt des Familienhauptes ist nichts geringes. Dazu kommt die Entfernung von den Märkten (Erhöhung der Lebcnsmittelpreise durch Kleinkrämer!), die Unmöglichkeit kleinen Nebenverdienstes für Frau und ältere Kinder, welcher sich in der Regel findet, wenn die Wohnung mehr in der Nähe wohlhabender Quartiere liegt. Gänzlich ungeeignet ist das System des Eigentumserwcrbes endlich da, wo der Arbeiter nicht dauernde Arbeit hat oder auf einen oder wenige Arbeitgeber angewiesen ist, dadurch unter Umständen in ein gefährliches Abhängigkeitsver- hciltnis geraten kann oder sein Haus unter allen Umständen losschlagen muß. Aus dem Gesagten, das den Gegenstand keineswegs erschöpft, geht zur Genüge hervor, wie beschränkt die Anzahl derer ist, welchen dnrch das in Aussicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/244>, abgerufen am 15.01.2025.