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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Dcis Ergebnis der französischen Wahlen.

Brisson wird es, wie man zu sagen Pflegt, nicht lange mehr machen. Schon
habe" zwei seiner Mitglieder, der Ackerbauminister Legrand und der Handels¬
minister Harpe-Mangon, sowie die Unterstantssckretäre Herault und Rousseau,
weil sie nicht wieder zu Abgeordneten gewählt worden sind, dem Präsidenten
Grevy ihr Enilassuugsgesuch eingereicht, und dasselbe ist angenommen worden.

So beginnt an verschiednen Stellen die Auflösung oder liegt wenigstens
schon merklich in der Luft. Und wie steht es mit der Republik überhaupt?
Es war allerdings unter dem Eindrucke der Wahlen vom 4. Oktober, wenn
ein angesehenes republikanisches Blatt in Paris sagte: " Zum erstenmale hat
die Republik Boden verloren, sie scheint ihr kritisches Alter erreicht zu haben."
Es wird nach dem 18. weniger Bedenken empfinden, und auch wir wollen uns
hüten, zu schwarz zu sehen. Aber zu viel Vertrauen wäre auch nicht am Orte.
In Frankreich haben Staatsformen, Negierungssysteme und Parteiführer mehr
als anderswo, Spanien vielleicht ausgenommen, ihre Zeit, wo sie populär sind,
und ihre Zeit, wo sie mißliebig werden, sich verbraucht haben und den Wunsch
nach einer Veränderung erwecken und immer lebendiger werden sehen. In der
ersten Zeit der großen Revolution dauerten diese Lebensperioden nur Monate,
das Direktorium währte einige Jahre, das Regiment des ersten Napoleon
brachte es auf vierzehn, die Restauration auf fünfzehn, die orleanistische Mon¬
archie auf achtzehn Jahre, das zweite Kaiserreich auf ein gleiches Alter. Die
Republik vom September 1870 hat nunmehr anderthalb Dezennien gelebt und
beginnt jetzt zu welken wie ihre Vorgänger. Sie hat offenbar unter dem Volke
an Ansehen eingebüßt. Sie hat nicht geleistet, was man von ihr hoffte. Eine
Ära kleiner Leute ist angebrochen. Niemand hat Einfluß genug, um die po¬
litischen Kräfte des Landes um sich zu vereinigen. Auch der Präsident Grevy
vermag das uicht. Er wird übrigens seine Vollmacht am 30. Januar des
nächsten Jahres an den dann zusammenzuberufe>,den Kongreß zurückgeben müssen,
da dann das Septennat, für das sie ihm übertragen wurde, abgelaufen sein
wird. Lebten Gambetta und der General Chanzy noch, so Hütte die Wahl
wohl nur zwischen diesen beiden geschwankt. Jetzt hat niemand unter den
Größen der dritten Republik Aussichten, sein Nachfolger zu werden. Ferry
sieht ganz außer Frage, Brisson hat, seit er Minister ist, an Beliebtheit ver¬
loren, Freycinet, durch Charakter, Intelligenz und Bildung mehr als andre
empfohlen, wird unter den Kandidaten für die Prüsidentnr jetzt kaum genannt.
Grevy scheint mir selbst geneigt zu sein, eine Wiederwahl anzunehmen, und er soll
das bereits erklärt haben. Er glaubt, wie es heißt, daß sein Patriotismus es
ihm zur Pflicht mache, im Amte zu bleiben, da dies die Konzentrirnng und
Vereinigung der republikanischen Kräfte des Landes, auf welche die Opportu¬
nisten ohne Unterlaß hinweisen, erleichtern werde. Ob diese Ansicht von der
Bedeutung seiner Persönlichkeit wohl zutreffen wird? Bis jetzt haben wir
keinen genügenden Grund gesehen, sie uns anzueignen, auch ist Präsident Grevy


Dcis Ergebnis der französischen Wahlen.

Brisson wird es, wie man zu sagen Pflegt, nicht lange mehr machen. Schon
habe» zwei seiner Mitglieder, der Ackerbauminister Legrand und der Handels¬
minister Harpe-Mangon, sowie die Unterstantssckretäre Herault und Rousseau,
weil sie nicht wieder zu Abgeordneten gewählt worden sind, dem Präsidenten
Grevy ihr Enilassuugsgesuch eingereicht, und dasselbe ist angenommen worden.

So beginnt an verschiednen Stellen die Auflösung oder liegt wenigstens
schon merklich in der Luft. Und wie steht es mit der Republik überhaupt?
Es war allerdings unter dem Eindrucke der Wahlen vom 4. Oktober, wenn
ein angesehenes republikanisches Blatt in Paris sagte: „ Zum erstenmale hat
die Republik Boden verloren, sie scheint ihr kritisches Alter erreicht zu haben."
Es wird nach dem 18. weniger Bedenken empfinden, und auch wir wollen uns
hüten, zu schwarz zu sehen. Aber zu viel Vertrauen wäre auch nicht am Orte.
In Frankreich haben Staatsformen, Negierungssysteme und Parteiführer mehr
als anderswo, Spanien vielleicht ausgenommen, ihre Zeit, wo sie populär sind,
und ihre Zeit, wo sie mißliebig werden, sich verbraucht haben und den Wunsch
nach einer Veränderung erwecken und immer lebendiger werden sehen. In der
ersten Zeit der großen Revolution dauerten diese Lebensperioden nur Monate,
das Direktorium währte einige Jahre, das Regiment des ersten Napoleon
brachte es auf vierzehn, die Restauration auf fünfzehn, die orleanistische Mon¬
archie auf achtzehn Jahre, das zweite Kaiserreich auf ein gleiches Alter. Die
Republik vom September 1870 hat nunmehr anderthalb Dezennien gelebt und
beginnt jetzt zu welken wie ihre Vorgänger. Sie hat offenbar unter dem Volke
an Ansehen eingebüßt. Sie hat nicht geleistet, was man von ihr hoffte. Eine
Ära kleiner Leute ist angebrochen. Niemand hat Einfluß genug, um die po¬
litischen Kräfte des Landes um sich zu vereinigen. Auch der Präsident Grevy
vermag das uicht. Er wird übrigens seine Vollmacht am 30. Januar des
nächsten Jahres an den dann zusammenzuberufe>,den Kongreß zurückgeben müssen,
da dann das Septennat, für das sie ihm übertragen wurde, abgelaufen sein
wird. Lebten Gambetta und der General Chanzy noch, so Hütte die Wahl
wohl nur zwischen diesen beiden geschwankt. Jetzt hat niemand unter den
Größen der dritten Republik Aussichten, sein Nachfolger zu werden. Ferry
sieht ganz außer Frage, Brisson hat, seit er Minister ist, an Beliebtheit ver¬
loren, Freycinet, durch Charakter, Intelligenz und Bildung mehr als andre
empfohlen, wird unter den Kandidaten für die Prüsidentnr jetzt kaum genannt.
Grevy scheint mir selbst geneigt zu sein, eine Wiederwahl anzunehmen, und er soll
das bereits erklärt haben. Er glaubt, wie es heißt, daß sein Patriotismus es
ihm zur Pflicht mache, im Amte zu bleiben, da dies die Konzentrirnng und
Vereinigung der republikanischen Kräfte des Landes, auf welche die Opportu¬
nisten ohne Unterlaß hinweisen, erleichtern werde. Ob diese Ansicht von der
Bedeutung seiner Persönlichkeit wohl zutreffen wird? Bis jetzt haben wir
keinen genügenden Grund gesehen, sie uns anzueignen, auch ist Präsident Grevy


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[0232] Dcis Ergebnis der französischen Wahlen. Brisson wird es, wie man zu sagen Pflegt, nicht lange mehr machen. Schon habe» zwei seiner Mitglieder, der Ackerbauminister Legrand und der Handels¬ minister Harpe-Mangon, sowie die Unterstantssckretäre Herault und Rousseau, weil sie nicht wieder zu Abgeordneten gewählt worden sind, dem Präsidenten Grevy ihr Enilassuugsgesuch eingereicht, und dasselbe ist angenommen worden. So beginnt an verschiednen Stellen die Auflösung oder liegt wenigstens schon merklich in der Luft. Und wie steht es mit der Republik überhaupt? Es war allerdings unter dem Eindrucke der Wahlen vom 4. Oktober, wenn ein angesehenes republikanisches Blatt in Paris sagte: „ Zum erstenmale hat die Republik Boden verloren, sie scheint ihr kritisches Alter erreicht zu haben." Es wird nach dem 18. weniger Bedenken empfinden, und auch wir wollen uns hüten, zu schwarz zu sehen. Aber zu viel Vertrauen wäre auch nicht am Orte. In Frankreich haben Staatsformen, Negierungssysteme und Parteiführer mehr als anderswo, Spanien vielleicht ausgenommen, ihre Zeit, wo sie populär sind, und ihre Zeit, wo sie mißliebig werden, sich verbraucht haben und den Wunsch nach einer Veränderung erwecken und immer lebendiger werden sehen. In der ersten Zeit der großen Revolution dauerten diese Lebensperioden nur Monate, das Direktorium währte einige Jahre, das Regiment des ersten Napoleon brachte es auf vierzehn, die Restauration auf fünfzehn, die orleanistische Mon¬ archie auf achtzehn Jahre, das zweite Kaiserreich auf ein gleiches Alter. Die Republik vom September 1870 hat nunmehr anderthalb Dezennien gelebt und beginnt jetzt zu welken wie ihre Vorgänger. Sie hat offenbar unter dem Volke an Ansehen eingebüßt. Sie hat nicht geleistet, was man von ihr hoffte. Eine Ära kleiner Leute ist angebrochen. Niemand hat Einfluß genug, um die po¬ litischen Kräfte des Landes um sich zu vereinigen. Auch der Präsident Grevy vermag das uicht. Er wird übrigens seine Vollmacht am 30. Januar des nächsten Jahres an den dann zusammenzuberufe>,den Kongreß zurückgeben müssen, da dann das Septennat, für das sie ihm übertragen wurde, abgelaufen sein wird. Lebten Gambetta und der General Chanzy noch, so Hütte die Wahl wohl nur zwischen diesen beiden geschwankt. Jetzt hat niemand unter den Größen der dritten Republik Aussichten, sein Nachfolger zu werden. Ferry sieht ganz außer Frage, Brisson hat, seit er Minister ist, an Beliebtheit ver¬ loren, Freycinet, durch Charakter, Intelligenz und Bildung mehr als andre empfohlen, wird unter den Kandidaten für die Prüsidentnr jetzt kaum genannt. Grevy scheint mir selbst geneigt zu sein, eine Wiederwahl anzunehmen, und er soll das bereits erklärt haben. Er glaubt, wie es heißt, daß sein Patriotismus es ihm zur Pflicht mache, im Amte zu bleiben, da dies die Konzentrirnng und Vereinigung der republikanischen Kräfte des Landes, auf welche die Opportu¬ nisten ohne Unterlaß hinweisen, erleichtern werde. Ob diese Ansicht von der Bedeutung seiner Persönlichkeit wohl zutreffen wird? Bis jetzt haben wir keinen genügenden Grund gesehen, sie uns anzueignen, auch ist Präsident Grevy

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/232>, abgerufen am 15.01.2025.