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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Literatur.

Muttersprache spricht, von Rußland zurückzuerobern -- umso eifriger bemüht ist,
die ideellen Beziehungen zu demselben aufs sorgfältigste zu Pflegen, Das Ver¬
langen nach solcher geistigen Verbindung ist fo stark, daß es sogar die eigentlichen
Finnen mit umfaßt, obgleich dieselben, ähnlich wie es in Ungarn die stammver¬
wandten Magyaren gethan haben, sich in jüngster Zeit in einer Art von Finuomanie
von der Bevormundung ihrer ehemaligen Herren zu befreien suchen. Ohne Zweifel
steht mit dieser ganzen Richtung die Reise im Zusammenhange, welche Professor
Retzius mit Professor Christian Soveu und Dr, Erik Nordenson zu anthropologischen
Studien im Jahre 1873 nach Finnland unternahm. Die streng wissenschaftlichen
Resultate dieser Expedition wurden von Retzius in einem großen Prachtwerke:
I'iusKs. Krauivr n. (Stockholm, 1873) niedergelegt. Aber neben Schädel- und
Körpermessungen waren Resultate gewonnen worden, die auf das Interesse weiterer
als nur medizinisch-anthropologischer Fachkreise Anspruch hatten. Damit solche
Ergebnisse von allgemeinerem Interesse dem weiteren Publikum zugänglich wurden,
ist um neben jenem großer" Prachtwerke aus der Feder desselben Professor Retzius
obiges kleinere, von I)r, Appel auch ins Deutsche übertragne Buch erschienen. Für
die wahrhaft musterhafte Uebersetzung desselben sind wir Dr. Appel umsomehr zu
Dank verpflichtet, als ja bei uus die Sprache unsrer skandinavischen Bettern so
wenig bekannt ist.

Bei dem Populären Zwecke unsers Buches, welches zugleich als Einleitung für
den Katalog der finnischen Abteilung im Nordischen Museum zu Stockholm geschrieben
wurde, ist es selbstverständlich, daß der berühmte Kraniologe das Anthropologische,
auf ein Schlußkapitel über die Nasseninerkmnle des finnischen Volkes beschränkt hat.
Ebenso erfahren wir über die Natur des Landes, wo das filmische Volk gelebt und
sich entwickelt hat, nichts wesentlich neues. Es galt ja dem Verfasser vor allem,
eine umfassende Schilderung der eigentümlichen Kultur des Volkes zu liefern, "das
unter allen nicht-arischen Europas, keineswegs ohne die Beihilfe der into-germanischen
Nachbarn, allein doch ohne seine wesentlichen Stammeseigenschnften eingebüßt zu
haben, die höchste Bildungsstufe erreicht hat." Um es seinen Lesern mehr an¬
schaulich zu machen, aus wie weit entlegner Vergangenheit der zähe Konservativisums
des finnische" Stammes höchst interessante Knlturüberreste bis ans den heutigen
Tag bewahrte, konnte er dabei gewiß nichts besseres thun, als zunächst ans Grund
der Kulturwörter der finnischen Sprache, der Wörter, welche aus andern Sprachen
in die finnische aufgenommen wurden, um Gegenstände und Verhältnisse zu bezeichnen,
welche durch den Verkehr mit fremden Völkern eingeführt wurden, ein übersicht¬
liches Bild von den: Kulturzustande zu geben, welchen die Finnen vor ihrer Be¬
rührung mit Gothen und Skandinaviern besaßen. In derselben Absicht hat er
darauf mit Zugrundelegung der seiner Schätzung nach zwischen dem fünften und
vierzehnten Jahrhundert entstandnen Kalevala-Gesänge ein Gemälde der Lebensweise
des finnischen Volkes im letzten Teile seiner heidnischen Zeit geliefert, der Zeit,
welche der Periode folgte, deren Bild nach den Kulturwörteru entworfen wurde.
Nachdem er so gewissermaßen historischen Boden und historische Stimmung geschaffen,
ist Retzius endlich zu der eigentlichen Aufgabe seines Buches, zur Schilderung der
uoch vorhandnen Züge charakteristisch finnischer Kultur gelangt.

Mit der Gründlichkeit des gelehrten Spezialistin führt er uns dnrch die ge¬
samten Privataltertümer seiner Finnen. Wir betreten mit ihm die Kola, eine jetzt
zur Extraküche degradirte konische Holzhütte, vor Einführung des Ackerbaues ohne
Zweifel die einzige Wohnung der Finnen. Wir lernen die finnische Birkenindustrie
kennen, die uoch jetzt dem Bauer Riudenschuhe, Messerscheiden, Ränzel, Taschen,


Literatur.

Muttersprache spricht, von Rußland zurückzuerobern — umso eifriger bemüht ist,
die ideellen Beziehungen zu demselben aufs sorgfältigste zu Pflegen, Das Ver¬
langen nach solcher geistigen Verbindung ist fo stark, daß es sogar die eigentlichen
Finnen mit umfaßt, obgleich dieselben, ähnlich wie es in Ungarn die stammver¬
wandten Magyaren gethan haben, sich in jüngster Zeit in einer Art von Finuomanie
von der Bevormundung ihrer ehemaligen Herren zu befreien suchen. Ohne Zweifel
steht mit dieser ganzen Richtung die Reise im Zusammenhange, welche Professor
Retzius mit Professor Christian Soveu und Dr, Erik Nordenson zu anthropologischen
Studien im Jahre 1873 nach Finnland unternahm. Die streng wissenschaftlichen
Resultate dieser Expedition wurden von Retzius in einem großen Prachtwerke:
I'iusKs. Krauivr n. (Stockholm, 1873) niedergelegt. Aber neben Schädel- und
Körpermessungen waren Resultate gewonnen worden, die auf das Interesse weiterer
als nur medizinisch-anthropologischer Fachkreise Anspruch hatten. Damit solche
Ergebnisse von allgemeinerem Interesse dem weiteren Publikum zugänglich wurden,
ist um neben jenem großer« Prachtwerke aus der Feder desselben Professor Retzius
obiges kleinere, von I)r, Appel auch ins Deutsche übertragne Buch erschienen. Für
die wahrhaft musterhafte Uebersetzung desselben sind wir Dr. Appel umsomehr zu
Dank verpflichtet, als ja bei uus die Sprache unsrer skandinavischen Bettern so
wenig bekannt ist.

Bei dem Populären Zwecke unsers Buches, welches zugleich als Einleitung für
den Katalog der finnischen Abteilung im Nordischen Museum zu Stockholm geschrieben
wurde, ist es selbstverständlich, daß der berühmte Kraniologe das Anthropologische,
auf ein Schlußkapitel über die Nasseninerkmnle des finnischen Volkes beschränkt hat.
Ebenso erfahren wir über die Natur des Landes, wo das filmische Volk gelebt und
sich entwickelt hat, nichts wesentlich neues. Es galt ja dem Verfasser vor allem,
eine umfassende Schilderung der eigentümlichen Kultur des Volkes zu liefern, „das
unter allen nicht-arischen Europas, keineswegs ohne die Beihilfe der into-germanischen
Nachbarn, allein doch ohne seine wesentlichen Stammeseigenschnften eingebüßt zu
haben, die höchste Bildungsstufe erreicht hat." Um es seinen Lesern mehr an¬
schaulich zu machen, aus wie weit entlegner Vergangenheit der zähe Konservativisums
des finnische» Stammes höchst interessante Knlturüberreste bis ans den heutigen
Tag bewahrte, konnte er dabei gewiß nichts besseres thun, als zunächst ans Grund
der Kulturwörter der finnischen Sprache, der Wörter, welche aus andern Sprachen
in die finnische aufgenommen wurden, um Gegenstände und Verhältnisse zu bezeichnen,
welche durch den Verkehr mit fremden Völkern eingeführt wurden, ein übersicht¬
liches Bild von den: Kulturzustande zu geben, welchen die Finnen vor ihrer Be¬
rührung mit Gothen und Skandinaviern besaßen. In derselben Absicht hat er
darauf mit Zugrundelegung der seiner Schätzung nach zwischen dem fünften und
vierzehnten Jahrhundert entstandnen Kalevala-Gesänge ein Gemälde der Lebensweise
des finnischen Volkes im letzten Teile seiner heidnischen Zeit geliefert, der Zeit,
welche der Periode folgte, deren Bild nach den Kulturwörteru entworfen wurde.
Nachdem er so gewissermaßen historischen Boden und historische Stimmung geschaffen,
ist Retzius endlich zu der eigentlichen Aufgabe seines Buches, zur Schilderung der
uoch vorhandnen Züge charakteristisch finnischer Kultur gelangt.

Mit der Gründlichkeit des gelehrten Spezialistin führt er uns dnrch die ge¬
samten Privataltertümer seiner Finnen. Wir betreten mit ihm die Kola, eine jetzt
zur Extraküche degradirte konische Holzhütte, vor Einführung des Ackerbaues ohne
Zweifel die einzige Wohnung der Finnen. Wir lernen die finnische Birkenindustrie
kennen, die uoch jetzt dem Bauer Riudenschuhe, Messerscheiden, Ränzel, Taschen,


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[0223] Literatur. Muttersprache spricht, von Rußland zurückzuerobern — umso eifriger bemüht ist, die ideellen Beziehungen zu demselben aufs sorgfältigste zu Pflegen, Das Ver¬ langen nach solcher geistigen Verbindung ist fo stark, daß es sogar die eigentlichen Finnen mit umfaßt, obgleich dieselben, ähnlich wie es in Ungarn die stammver¬ wandten Magyaren gethan haben, sich in jüngster Zeit in einer Art von Finuomanie von der Bevormundung ihrer ehemaligen Herren zu befreien suchen. Ohne Zweifel steht mit dieser ganzen Richtung die Reise im Zusammenhange, welche Professor Retzius mit Professor Christian Soveu und Dr, Erik Nordenson zu anthropologischen Studien im Jahre 1873 nach Finnland unternahm. Die streng wissenschaftlichen Resultate dieser Expedition wurden von Retzius in einem großen Prachtwerke: I'iusKs. Krauivr n. (Stockholm, 1873) niedergelegt. Aber neben Schädel- und Körpermessungen waren Resultate gewonnen worden, die auf das Interesse weiterer als nur medizinisch-anthropologischer Fachkreise Anspruch hatten. Damit solche Ergebnisse von allgemeinerem Interesse dem weiteren Publikum zugänglich wurden, ist um neben jenem großer« Prachtwerke aus der Feder desselben Professor Retzius obiges kleinere, von I)r, Appel auch ins Deutsche übertragne Buch erschienen. Für die wahrhaft musterhafte Uebersetzung desselben sind wir Dr. Appel umsomehr zu Dank verpflichtet, als ja bei uus die Sprache unsrer skandinavischen Bettern so wenig bekannt ist. Bei dem Populären Zwecke unsers Buches, welches zugleich als Einleitung für den Katalog der finnischen Abteilung im Nordischen Museum zu Stockholm geschrieben wurde, ist es selbstverständlich, daß der berühmte Kraniologe das Anthropologische, auf ein Schlußkapitel über die Nasseninerkmnle des finnischen Volkes beschränkt hat. Ebenso erfahren wir über die Natur des Landes, wo das filmische Volk gelebt und sich entwickelt hat, nichts wesentlich neues. Es galt ja dem Verfasser vor allem, eine umfassende Schilderung der eigentümlichen Kultur des Volkes zu liefern, „das unter allen nicht-arischen Europas, keineswegs ohne die Beihilfe der into-germanischen Nachbarn, allein doch ohne seine wesentlichen Stammeseigenschnften eingebüßt zu haben, die höchste Bildungsstufe erreicht hat." Um es seinen Lesern mehr an¬ schaulich zu machen, aus wie weit entlegner Vergangenheit der zähe Konservativisums des finnische» Stammes höchst interessante Knlturüberreste bis ans den heutigen Tag bewahrte, konnte er dabei gewiß nichts besseres thun, als zunächst ans Grund der Kulturwörter der finnischen Sprache, der Wörter, welche aus andern Sprachen in die finnische aufgenommen wurden, um Gegenstände und Verhältnisse zu bezeichnen, welche durch den Verkehr mit fremden Völkern eingeführt wurden, ein übersicht¬ liches Bild von den: Kulturzustande zu geben, welchen die Finnen vor ihrer Be¬ rührung mit Gothen und Skandinaviern besaßen. In derselben Absicht hat er darauf mit Zugrundelegung der seiner Schätzung nach zwischen dem fünften und vierzehnten Jahrhundert entstandnen Kalevala-Gesänge ein Gemälde der Lebensweise des finnischen Volkes im letzten Teile seiner heidnischen Zeit geliefert, der Zeit, welche der Periode folgte, deren Bild nach den Kulturwörteru entworfen wurde. Nachdem er so gewissermaßen historischen Boden und historische Stimmung geschaffen, ist Retzius endlich zu der eigentlichen Aufgabe seines Buches, zur Schilderung der uoch vorhandnen Züge charakteristisch finnischer Kultur gelangt. Mit der Gründlichkeit des gelehrten Spezialistin führt er uns dnrch die ge¬ samten Privataltertümer seiner Finnen. Wir betreten mit ihm die Kola, eine jetzt zur Extraküche degradirte konische Holzhütte, vor Einführung des Ackerbaues ohne Zweifel die einzige Wohnung der Finnen. Wir lernen die finnische Birkenindustrie kennen, die uoch jetzt dem Bauer Riudenschuhe, Messerscheiden, Ränzel, Taschen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/223>, abgerufen am 15.01.2025.