Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Berufsklassenwahl, das anzustrebende Ideal gepriesen wurden, mit dem Zusatze freilich, daß sich Der Grund dieser Mißstände aber liegt einfach darin, daß man von den Die Reichsverfassung hat damit eine Forderung gestellt, die sich wohl theo¬ Die proportionale Berufsklassenwahl, das anzustrebende Ideal gepriesen wurden, mit dem Zusatze freilich, daß sich Der Grund dieser Mißstände aber liegt einfach darin, daß man von den Die Reichsverfassung hat damit eine Forderung gestellt, die sich wohl theo¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196756"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Berufsklassenwahl,</fw><lb/> <p xml:id="ID_46" prev="#ID_45"> das anzustrebende Ideal gepriesen wurden, mit dem Zusatze freilich, daß sich<lb/> dasselbe vorläufig noch nicht erreichen lassen werde! Mit wie unsinnigen und<lb/> geradezu lächerlichen Versprechungen anderseits die Neiseagitatoren der frei¬<lb/> sinnigen Parteien namentlich in den Landgemeinden Propaganda machen, ist<lb/> genugsam bekannt. Von allen schwindelhafter Unternehmungen, welche unsre<lb/> reklamesüchtige Zeit charakterisiren, ist der Wahlhumbug vielleicht die größte<lb/> und erfolgreichste. Denn er wendet sich an die nie aussterbende Rasse der<lb/> Einfältigen. Und auf diesem Gebiete wird noch mehr als auf dem des reli¬<lb/> giösen Aberglaubens das Unwahrscheinlichste am leichtesten geglaubt. Leute,<lb/> welche mit dem Kirchenglauben längst gebrochen haben und über Religions-<lb/> fragen spöttisch die Achseln zucken, erhitzen sich über die Evangelien eines poli¬<lb/> tischen Nciseapostels und sind bereit, zur Bekräftigung ihres Kredo gelegent¬<lb/> lich sogar das Messer zu ziehen. „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und<lb/> wenn er sie beim Kragen hätte." Die wüsten Vorgänge bei den Wahlkcimpfen<lb/> führen immer mehr dahin, den friedliebenden Elementen jede Beteiligung zu<lb/> verleiden.</p><lb/> <p xml:id="ID_47"> Der Grund dieser Mißstände aber liegt einfach darin, daß man von den<lb/> politisch Umreisen ein Votum über Fragen verlangt, die ganz außerhalb des<lb/> Bereiches ihrer Urteilskraft liegen. Warum sie nicht über Dinge befragen, die<lb/> sie verstehen, ja die sie besser verstehen als andre? Warum uicht die Entschei¬<lb/> dung auf das Gebiet ihrer persönlichen und Fachinteresscn verlegen und ihre<lb/> Vertretung auf Männer beschränken, die aus diesem Interessenkreise entweder<lb/> selbst hervorgegangen sind oder doch mit ihm in Fühlung stehen? Dieser Ge¬<lb/> danke ist so naheliegend, daß man sich erstaunt fragen muß, wie es eigentlich<lb/> gekommen ist, daß er uicht das Leitmotiv der parlamentarischen Aktion bildet.<lb/> Aber die unklaren Vorstellungen von Volkswohl, Volksrecht oder gar Volks¬<lb/> souveränität haben diese Verwirrung hervorgebracht. So ist man zu der irrigen<lb/> Vorstellung gelangt, es sei jeder einzelne, aus direkter Wahl hervorgegangene<lb/> Abgeordnete Vertreter des gesamten Volkes, während er doch thatsächlich nur<lb/> eine Gruppe von Interessenten vertritt, als bilde der Reichstag gewissermaßen<lb/> das Reservoir, in welchem sich der Extrakt der öffentlichen Meinung ansammle.<lb/> Diese Anschauung hat auch in der Verfassung Eingang gefunden. Denn der<lb/> Artikel 29 erklärt ausdrücklich, daß „die Mitglieder des Reichstages Vertreter<lb/> des gesamten Volkes" sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_48" next="#ID_49"> Die Reichsverfassung hat damit eine Forderung gestellt, die sich wohl theo¬<lb/> retisch begründen, praktisch aber nicht durchführen läßt. Sie ist dem Gedanken<lb/> entsprungen, die Abgeordneten von einer Verantwortlichkeit gegen ihre Man¬<lb/> danten zu entbinden, sie den Einflüssen lokaler Gevatterschaften oder politischer<lb/> Cliquen zu entziehen und ihr Augenmerk von den Interessen einzelner Gruppen<lb/> ab und auf die allgemeine Wohlfahrt des Landes zu lenken. Mag aber jedes<lb/> Neichstagsmitglied diesem abstrakten Postulat entsprechend als Mandatar der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
Die proportionale Berufsklassenwahl,
das anzustrebende Ideal gepriesen wurden, mit dem Zusatze freilich, daß sich
dasselbe vorläufig noch nicht erreichen lassen werde! Mit wie unsinnigen und
geradezu lächerlichen Versprechungen anderseits die Neiseagitatoren der frei¬
sinnigen Parteien namentlich in den Landgemeinden Propaganda machen, ist
genugsam bekannt. Von allen schwindelhafter Unternehmungen, welche unsre
reklamesüchtige Zeit charakterisiren, ist der Wahlhumbug vielleicht die größte
und erfolgreichste. Denn er wendet sich an die nie aussterbende Rasse der
Einfältigen. Und auf diesem Gebiete wird noch mehr als auf dem des reli¬
giösen Aberglaubens das Unwahrscheinlichste am leichtesten geglaubt. Leute,
welche mit dem Kirchenglauben längst gebrochen haben und über Religions-
fragen spöttisch die Achseln zucken, erhitzen sich über die Evangelien eines poli¬
tischen Nciseapostels und sind bereit, zur Bekräftigung ihres Kredo gelegent¬
lich sogar das Messer zu ziehen. „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und
wenn er sie beim Kragen hätte." Die wüsten Vorgänge bei den Wahlkcimpfen
führen immer mehr dahin, den friedliebenden Elementen jede Beteiligung zu
verleiden.
Der Grund dieser Mißstände aber liegt einfach darin, daß man von den
politisch Umreisen ein Votum über Fragen verlangt, die ganz außerhalb des
Bereiches ihrer Urteilskraft liegen. Warum sie nicht über Dinge befragen, die
sie verstehen, ja die sie besser verstehen als andre? Warum uicht die Entschei¬
dung auf das Gebiet ihrer persönlichen und Fachinteresscn verlegen und ihre
Vertretung auf Männer beschränken, die aus diesem Interessenkreise entweder
selbst hervorgegangen sind oder doch mit ihm in Fühlung stehen? Dieser Ge¬
danke ist so naheliegend, daß man sich erstaunt fragen muß, wie es eigentlich
gekommen ist, daß er uicht das Leitmotiv der parlamentarischen Aktion bildet.
Aber die unklaren Vorstellungen von Volkswohl, Volksrecht oder gar Volks¬
souveränität haben diese Verwirrung hervorgebracht. So ist man zu der irrigen
Vorstellung gelangt, es sei jeder einzelne, aus direkter Wahl hervorgegangene
Abgeordnete Vertreter des gesamten Volkes, während er doch thatsächlich nur
eine Gruppe von Interessenten vertritt, als bilde der Reichstag gewissermaßen
das Reservoir, in welchem sich der Extrakt der öffentlichen Meinung ansammle.
Diese Anschauung hat auch in der Verfassung Eingang gefunden. Denn der
Artikel 29 erklärt ausdrücklich, daß „die Mitglieder des Reichstages Vertreter
des gesamten Volkes" sind.
Die Reichsverfassung hat damit eine Forderung gestellt, die sich wohl theo¬
retisch begründen, praktisch aber nicht durchführen läßt. Sie ist dem Gedanken
entsprungen, die Abgeordneten von einer Verantwortlichkeit gegen ihre Man¬
danten zu entbinden, sie den Einflüssen lokaler Gevatterschaften oder politischer
Cliquen zu entziehen und ihr Augenmerk von den Interessen einzelner Gruppen
ab und auf die allgemeine Wohlfahrt des Landes zu lenken. Mag aber jedes
Neichstagsmitglied diesem abstrakten Postulat entsprechend als Mandatar der
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