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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Nein, davon weiß ich kein Sterbenswörtchen.

Draußen am Wansee lebte eine alte reiche Dame, die, von verschiednen
wirklichen und eingebildeten körperlichen Leiden geplagt, zuletzt Vegetarianerin
wurde, und da sie sich bei dieser einfachen Lebensweise wohl fühlte, in der
Pflanzennahrung ein Allheilmittel gegen jedes körperliche Ungemach der schwachen
Menschennatur fand. Um aber für ihre Lehre Propaganda zu machen, hat
sie ans ihrer schönen Villa eine Kinderbewahranstalt gemacht, in welche sie so
viele arme Würmer, als sie nur von unglücklichen oder leichtsinnigen Müttern
erlangen kann, bei sich aufnimmt und vegetaricniisch erzieht. Ja ja, mein
lieber Harald, lächle nicht so überlegen ; dieses Berliner Leben bringt wunderbare
Blasen an die Oberfläche, nur muß man sich nicht, wie du, in ein Mauseloch
verkriechen, wenn man davon etwas sehen will. Doch hat in diesem Falle die
Sache auch ihre gute Seite, die freilich mehr an Fanatismus grenzt. Denn
es ist wahrhaft rührend, wenn man die Pflege sieht, die jene Frau, allein von
ihrer einzigen Tochter Magdalene unterstützt, Tag und Nacht den kleinen un¬
glücklichen Geschöpfen angedeihen läßt. Und sie hat mit ihrer vegetaricmischen
Methode schon ganz hervorragende Erfolge erzielt. Die elendesten Kinder, mit
allen Gebrechen der Armut und des Lasters behaftet, entwickeln sich unter
ihrer Pflege zu strammen, rotwangiger Pudel. Wir wollen einmal Sonntags
zu ihr hinaus; denn ich bin ihr juristischer Beirat und darf schon einmal einen
Freund in ihr Sanatorium mitbringen.

Du bist ja die wahrhafte Stadtchronik, aber jetzt wird es Zeit, daß wir
uns trennen.

Nur noch wenige Worte. Magdalene und Vroni sind Freundinnen aus
der Tanzstunde -- ich habe beide als Backfische auch da kennen gelernt -- und
so kam es, daß letztere vor einigen Monaten von der neuen Kinderpflege bei
Mcigdalenens Mutter ihrem Vater erzählte. Herrn Keller fiel es wie Schuppen
von den Augen; das Problem seiner Philosophie schien in unbewußten Kopf
die Lösung gefunden zu haben. Schon in den nächste": Tagen begann er
Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Verteidiger aufzusuchen und
zu bitten, ihm entlassene oder wegen ihres Alters außer Verfolgung gebliebene
jugendliche Sträflinge zur unentgeltlichen Weitererziehung zu überlassen. Seiner
Bitte ist vielfach gewillfahrt worden, und so hat er sich seit etwa einem halben
Jahre in seinem schönen Römischen Hause in der Lichtensteinallee ein Kriminal¬
asyl eingerichtet, in welchem jetzt über ein Dutzend Rangen wieder gut gemacht
werden sollen. Ich habe ihm gestern erst ein sauberes Früchtchen eingeliefert,
das alle Anlagen zu einem Traupmcmu besitzt und einen völlig systematischen
Mordversuch gegen sein Schwesterchen gemacht hat. Ich bin doch neugierig,
was Keller hier zuwege bringen wird.

Ja, alles, was du mir da erzählst, kann doch nur den Mann in meiner
Achtung steigen lassen.


Nein, davon weiß ich kein Sterbenswörtchen.

Draußen am Wansee lebte eine alte reiche Dame, die, von verschiednen
wirklichen und eingebildeten körperlichen Leiden geplagt, zuletzt Vegetarianerin
wurde, und da sie sich bei dieser einfachen Lebensweise wohl fühlte, in der
Pflanzennahrung ein Allheilmittel gegen jedes körperliche Ungemach der schwachen
Menschennatur fand. Um aber für ihre Lehre Propaganda zu machen, hat
sie ans ihrer schönen Villa eine Kinderbewahranstalt gemacht, in welche sie so
viele arme Würmer, als sie nur von unglücklichen oder leichtsinnigen Müttern
erlangen kann, bei sich aufnimmt und vegetaricniisch erzieht. Ja ja, mein
lieber Harald, lächle nicht so überlegen ; dieses Berliner Leben bringt wunderbare
Blasen an die Oberfläche, nur muß man sich nicht, wie du, in ein Mauseloch
verkriechen, wenn man davon etwas sehen will. Doch hat in diesem Falle die
Sache auch ihre gute Seite, die freilich mehr an Fanatismus grenzt. Denn
es ist wahrhaft rührend, wenn man die Pflege sieht, die jene Frau, allein von
ihrer einzigen Tochter Magdalene unterstützt, Tag und Nacht den kleinen un¬
glücklichen Geschöpfen angedeihen läßt. Und sie hat mit ihrer vegetaricmischen
Methode schon ganz hervorragende Erfolge erzielt. Die elendesten Kinder, mit
allen Gebrechen der Armut und des Lasters behaftet, entwickeln sich unter
ihrer Pflege zu strammen, rotwangiger Pudel. Wir wollen einmal Sonntags
zu ihr hinaus; denn ich bin ihr juristischer Beirat und darf schon einmal einen
Freund in ihr Sanatorium mitbringen.

Du bist ja die wahrhafte Stadtchronik, aber jetzt wird es Zeit, daß wir
uns trennen.

Nur noch wenige Worte. Magdalene und Vroni sind Freundinnen aus
der Tanzstunde — ich habe beide als Backfische auch da kennen gelernt — und
so kam es, daß letztere vor einigen Monaten von der neuen Kinderpflege bei
Mcigdalenens Mutter ihrem Vater erzählte. Herrn Keller fiel es wie Schuppen
von den Augen; das Problem seiner Philosophie schien in unbewußten Kopf
die Lösung gefunden zu haben. Schon in den nächste«: Tagen begann er
Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Verteidiger aufzusuchen und
zu bitten, ihm entlassene oder wegen ihres Alters außer Verfolgung gebliebene
jugendliche Sträflinge zur unentgeltlichen Weitererziehung zu überlassen. Seiner
Bitte ist vielfach gewillfahrt worden, und so hat er sich seit etwa einem halben
Jahre in seinem schönen Römischen Hause in der Lichtensteinallee ein Kriminal¬
asyl eingerichtet, in welchem jetzt über ein Dutzend Rangen wieder gut gemacht
werden sollen. Ich habe ihm gestern erst ein sauberes Früchtchen eingeliefert,
das alle Anlagen zu einem Traupmcmu besitzt und einen völlig systematischen
Mordversuch gegen sein Schwesterchen gemacht hat. Ich bin doch neugierig,
was Keller hier zuwege bringen wird.

Ja, alles, was du mir da erzählst, kann doch nur den Mann in meiner
Achtung steigen lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/211>, abgerufen am 23.01.2025.