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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Kernpunkt seines Unterrichts, bei den Mädchen ein Verständnis für die Kunst,
einen sichern Blick für das Schöne und eine Läuterung des Urteils zu fördern.
Es war sonst Mode, daß die jungen Damen alljährlich mindestens ein Dutzend
Bilder in großem Stile vollendeten, die dann zu den Geburtstagen der Eltern,
Tanten und Onkel eine größere Verwendung fanden, als den Beschenkten, in
deren Behausung allmählich eine Galerie nicht gerade ersten Ranges anwuchs,
angenehm sein konnte. Dagegen hatten diese Künstlerinnen, abgesehen von den
eingelernten Phrasen ihres Schnlunternchtcs, weder von der Entwicklung der
Kunst eine Vorstellung, noch warm sie für die Empfindungen zugänglich, welche
ein hohes Kunstwerk auf den Geist und die Seele eines verständigen Beschauers
üben soll. Gerade die Beseitigung dieser Mängel war das Hauptbestreben der
Haraldschen Methode. Seine Vorlagen zielten darauf hin, den künstlerischen
Geschmack bei seinen Schülern zu fördern oder zu wecken; er zeigte während des
Unterrichts verschiedne Skizzen und Photographien, die er auf seinen Reisen ge¬
sammelt hatte, erörterte an diesen Vorlagen bald die Schule dieses oder jenes
Meisters, und so war es gleichzeitig ein kunstgeschichtlicher und ästhetischer Unter¬
richt, den er neben der eigentlichen Malerei erteilte.

An Vroni fand er nicht nur ein sehr reges Interesse, sondern bald anch
ein sehr verständiges Urteil, das sich jedoch mehr und mehr einer realistischen
Richtung zuwendete; sie uahiu die Meinung andrer nicht ohne weiteres hin,
sondern bezeugte eine große Neigung, sie zu bekämpfen und durch Rede und
Gegenrede zu einer Entscheidung des Streitpunktes zu gelangen. Harald sah
sich veranlaßt, um derartige größere Disputationen zu vermeiden, allzu kühne
Anschauungen Vronis bald onrch leichten Spott zu dämpfen, bald dnrch ein
ernstes Wort ans das richtige Maß zurückzuführen, und er merkte, daß, während
Vroni gegen den erstem sich unwillig zeigte, sie eine ernste Lehre mit würdiger
Unterwerfung sinnenden.

Bei diesem Unterricht war schon ein Vierteljahr hingegangen, und es hatte
sich zwischen Lehrer und Schülerin ein so eigenartiges Verhältnis ausgebildet,
daß jener Abstand völlig verwischt zu sein schien und allmählich und unbewußt
eine gewisse Intimität eingetreten war. Hätte man jedes von ihnen auf sein
Gewissen gefragt, ob es für das andre eine ernstere Neigung empfinde, so
würde es eine solche Frage mit Verwunderung zurückgewiesen haben. Das
Unbewußte lag noch zu tief versteckt. Auch fehlte es uicht an Gelegenheiten,
welche einen so innern Gegensatz in den Lebensanschauungen beider an den Tag
brachten, daß. die Möglichkeit einer Annäherung ausgeschlossen schien. Die
kindliche Zuneigung, welche Vroni auf der Schule zu ihrem Lehrer hegte
nud welche in der Mitte zwischen Bewunderung, Teilnahme und Liebe stand, hatte
bei dem häufigen und nähern Verkehr einer gewissen Unsicherheit Platz gemacht.
Sie würde das Aufgeben dieses Verkehrs zwar mit dem bittersten Schmerze
empfunden haben, aber sie betrachtete die Fortsetzung als eine selbstverständliche


Kernpunkt seines Unterrichts, bei den Mädchen ein Verständnis für die Kunst,
einen sichern Blick für das Schöne und eine Läuterung des Urteils zu fördern.
Es war sonst Mode, daß die jungen Damen alljährlich mindestens ein Dutzend
Bilder in großem Stile vollendeten, die dann zu den Geburtstagen der Eltern,
Tanten und Onkel eine größere Verwendung fanden, als den Beschenkten, in
deren Behausung allmählich eine Galerie nicht gerade ersten Ranges anwuchs,
angenehm sein konnte. Dagegen hatten diese Künstlerinnen, abgesehen von den
eingelernten Phrasen ihres Schnlunternchtcs, weder von der Entwicklung der
Kunst eine Vorstellung, noch warm sie für die Empfindungen zugänglich, welche
ein hohes Kunstwerk auf den Geist und die Seele eines verständigen Beschauers
üben soll. Gerade die Beseitigung dieser Mängel war das Hauptbestreben der
Haraldschen Methode. Seine Vorlagen zielten darauf hin, den künstlerischen
Geschmack bei seinen Schülern zu fördern oder zu wecken; er zeigte während des
Unterrichts verschiedne Skizzen und Photographien, die er auf seinen Reisen ge¬
sammelt hatte, erörterte an diesen Vorlagen bald die Schule dieses oder jenes
Meisters, und so war es gleichzeitig ein kunstgeschichtlicher und ästhetischer Unter¬
richt, den er neben der eigentlichen Malerei erteilte.

An Vroni fand er nicht nur ein sehr reges Interesse, sondern bald anch
ein sehr verständiges Urteil, das sich jedoch mehr und mehr einer realistischen
Richtung zuwendete; sie uahiu die Meinung andrer nicht ohne weiteres hin,
sondern bezeugte eine große Neigung, sie zu bekämpfen und durch Rede und
Gegenrede zu einer Entscheidung des Streitpunktes zu gelangen. Harald sah
sich veranlaßt, um derartige größere Disputationen zu vermeiden, allzu kühne
Anschauungen Vronis bald onrch leichten Spott zu dämpfen, bald dnrch ein
ernstes Wort ans das richtige Maß zurückzuführen, und er merkte, daß, während
Vroni gegen den erstem sich unwillig zeigte, sie eine ernste Lehre mit würdiger
Unterwerfung sinnenden.

Bei diesem Unterricht war schon ein Vierteljahr hingegangen, und es hatte
sich zwischen Lehrer und Schülerin ein so eigenartiges Verhältnis ausgebildet,
daß jener Abstand völlig verwischt zu sein schien und allmählich und unbewußt
eine gewisse Intimität eingetreten war. Hätte man jedes von ihnen auf sein
Gewissen gefragt, ob es für das andre eine ernstere Neigung empfinde, so
würde es eine solche Frage mit Verwunderung zurückgewiesen haben. Das
Unbewußte lag noch zu tief versteckt. Auch fehlte es uicht an Gelegenheiten,
welche einen so innern Gegensatz in den Lebensanschauungen beider an den Tag
brachten, daß. die Möglichkeit einer Annäherung ausgeschlossen schien. Die
kindliche Zuneigung, welche Vroni auf der Schule zu ihrem Lehrer hegte
nud welche in der Mitte zwischen Bewunderung, Teilnahme und Liebe stand, hatte
bei dem häufigen und nähern Verkehr einer gewissen Unsicherheit Platz gemacht.
Sie würde das Aufgeben dieses Verkehrs zwar mit dem bittersten Schmerze
empfunden haben, aber sie betrachtete die Fortsetzung als eine selbstverständliche


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[0206] Kernpunkt seines Unterrichts, bei den Mädchen ein Verständnis für die Kunst, einen sichern Blick für das Schöne und eine Läuterung des Urteils zu fördern. Es war sonst Mode, daß die jungen Damen alljährlich mindestens ein Dutzend Bilder in großem Stile vollendeten, die dann zu den Geburtstagen der Eltern, Tanten und Onkel eine größere Verwendung fanden, als den Beschenkten, in deren Behausung allmählich eine Galerie nicht gerade ersten Ranges anwuchs, angenehm sein konnte. Dagegen hatten diese Künstlerinnen, abgesehen von den eingelernten Phrasen ihres Schnlunternchtcs, weder von der Entwicklung der Kunst eine Vorstellung, noch warm sie für die Empfindungen zugänglich, welche ein hohes Kunstwerk auf den Geist und die Seele eines verständigen Beschauers üben soll. Gerade die Beseitigung dieser Mängel war das Hauptbestreben der Haraldschen Methode. Seine Vorlagen zielten darauf hin, den künstlerischen Geschmack bei seinen Schülern zu fördern oder zu wecken; er zeigte während des Unterrichts verschiedne Skizzen und Photographien, die er auf seinen Reisen ge¬ sammelt hatte, erörterte an diesen Vorlagen bald die Schule dieses oder jenes Meisters, und so war es gleichzeitig ein kunstgeschichtlicher und ästhetischer Unter¬ richt, den er neben der eigentlichen Malerei erteilte. An Vroni fand er nicht nur ein sehr reges Interesse, sondern bald anch ein sehr verständiges Urteil, das sich jedoch mehr und mehr einer realistischen Richtung zuwendete; sie uahiu die Meinung andrer nicht ohne weiteres hin, sondern bezeugte eine große Neigung, sie zu bekämpfen und durch Rede und Gegenrede zu einer Entscheidung des Streitpunktes zu gelangen. Harald sah sich veranlaßt, um derartige größere Disputationen zu vermeiden, allzu kühne Anschauungen Vronis bald onrch leichten Spott zu dämpfen, bald dnrch ein ernstes Wort ans das richtige Maß zurückzuführen, und er merkte, daß, während Vroni gegen den erstem sich unwillig zeigte, sie eine ernste Lehre mit würdiger Unterwerfung sinnenden. Bei diesem Unterricht war schon ein Vierteljahr hingegangen, und es hatte sich zwischen Lehrer und Schülerin ein so eigenartiges Verhältnis ausgebildet, daß jener Abstand völlig verwischt zu sein schien und allmählich und unbewußt eine gewisse Intimität eingetreten war. Hätte man jedes von ihnen auf sein Gewissen gefragt, ob es für das andre eine ernstere Neigung empfinde, so würde es eine solche Frage mit Verwunderung zurückgewiesen haben. Das Unbewußte lag noch zu tief versteckt. Auch fehlte es uicht an Gelegenheiten, welche einen so innern Gegensatz in den Lebensanschauungen beider an den Tag brachten, daß. die Möglichkeit einer Annäherung ausgeschlossen schien. Die kindliche Zuneigung, welche Vroni auf der Schule zu ihrem Lehrer hegte nud welche in der Mitte zwischen Bewunderung, Teilnahme und Liebe stand, hatte bei dem häufigen und nähern Verkehr einer gewissen Unsicherheit Platz gemacht. Sie würde das Aufgeben dieses Verkehrs zwar mit dem bittersten Schmerze empfunden haben, aber sie betrachtete die Fortsetzung als eine selbstverständliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/206>, abgerufen am 15.01.2025.