Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Berufsklassenwahl. Der bedenklichste Fehler, den die geographische Wählergruppirnng ausweist, Aber selbst wenn wir uns die fortschrittliche Fiktion des "Volksstaates" Die proportionale Berufsklassenwahl. Der bedenklichste Fehler, den die geographische Wählergruppirnng ausweist, Aber selbst wenn wir uns die fortschrittliche Fiktion des „Volksstaates" <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196753"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Berufsklassenwahl.</fw><lb/> <p xml:id="ID_38"> Der bedenklichste Fehler, den die geographische Wählergruppirnng ausweist,<lb/> liegt in dem Verkennen der großen Unterschiede in den Bedürfnissen der länd¬<lb/> lichen und der städtischen Bevölkerung. Der Vaner hat andre Interessen als der<lb/> Fabrikarbeiter, der Großgrundbesitzer andre als der Großindustrielle. Die land¬<lb/> wirtschaftliche Berufsklasse hat andre Rechte zu verteidigen, andre Wünsche<lb/> geltend zu machen, andre ökonomische Schwierigkeiten zu überwinden, eine andre<lb/> Art der Entwicklung und auch ein andres Ziel vor Angen als die industrielle<lb/> Genossenschaft, als das Beamtentum oder der Handelsstand. Gewiß wird ein¬<lb/> mal die Zeit kommen, wo man es nicht begreifen wird, daß alle diese hetero¬<lb/> genen, sich teils ignorirenden, teils bekämpfenden Interessen nach ein und der¬<lb/> selben Schablone beurteilt, bewertet und behandelt wurden.</p><lb/> <p xml:id="ID_39"> Aber selbst wenn wir uns die fortschrittliche Fiktion des „Volksstaates"<lb/> aneignen wollten, würde sich die Frage aufwerfen lassen: Wie gelangt in dem<lb/> gewiesenen Rahmen der Reichsverfassung die Volksmeinung am klarsten zum<lb/> öffentlichen Ausdruck? Stellt sich in der Person des heutigen Reichstags-<lb/> abgeordneten die Quintessenz der politischen Anschauungen am korrektesten dar?<lb/> Doch wohl nur diejenige des Wahlbezirks, aus dem er hervorgegangen, und auch<lb/> nur die der Majorität! Die Minorität bleibt unvertreten, mag sie auch der<lb/> Mehrheit bis auf wenige Stimmen nahekommen. In keinem Falle ist also der<lb/> Reichstag .der Vertreter der allgemeinen Volksstimmung, sondern nur der<lb/> Mehrheit der überhaupt abgegebenen Stimmen. Unbeteiligt bleiben bei diesem<lb/> Mandat die geschlagner Minoritäten, alle, welche nicht gewählt haben, alle nicht<lb/> Wahlfähigen und das aktive Heer. Es kann also nnr auf Irrtum oder absicht¬<lb/> licher Täuschung beruhen, wenn man die ehrenwerten Mitglieder des Reichstages<lb/> als Mandatare des „Volkes." hinstellt. Aber gehen wir noch einen Schritt<lb/> weiter! Beschränken wir uns selbst auf die Zahl der abgegebenen Stimmen<lb/> und scheiden wir alle durch das Gesetz oder die eigne Gleichgiltigkeit vom Wahl¬<lb/> kampf ferngehaltenen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft aus. Aeeeptiren<lb/> wir einmal versuchsweise den Ausdruck „Volk" für alle an die Urne heran¬<lb/> tretenden Wähler. Wie setzt sich da die Volksmeinung, ja selbst auch nur die<lb/> Parteigruppirnng zusammen? Doch nur aus einzelnen individuellen Ansichten.<lb/> Worauf gründen sich diese? Auf Lebensstellung, Erfahrung, Erziehung, soweit<lb/> sie der Eigenart des Individuums ihren Ursprung verdankt; auf blindes Ver¬<lb/> trauen, insofern sie sich der Führerschaft einer fremden Autorität anschließen.<lb/> Wir überlassen es der objektive» Beurteilung des Lesers, zu entscheiden, welcher<lb/> dieser beiden Faktoren bei der Neichstagswahl mehr ins Gewicht fällt, wie weit<lb/> also die Wahlen auf Grund eigner politischer Überzeugung des Individuums,<lb/> wie weit sie unter den: Drucke fremder Einwirkungen stattfinden. Von selbst-<lb/> crworbener Überzeugung kann überhaupt nur bei einem sehr kleinen Teile der<lb/> Bevölkerung die Rede sein. Politische Bildung ist das Produkt von Beobachtung<lb/> und Erfahrung; sie erfordert Zeit und ist nicht das Gemeingut aller Stunde.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
Die proportionale Berufsklassenwahl.
Der bedenklichste Fehler, den die geographische Wählergruppirnng ausweist,
liegt in dem Verkennen der großen Unterschiede in den Bedürfnissen der länd¬
lichen und der städtischen Bevölkerung. Der Vaner hat andre Interessen als der
Fabrikarbeiter, der Großgrundbesitzer andre als der Großindustrielle. Die land¬
wirtschaftliche Berufsklasse hat andre Rechte zu verteidigen, andre Wünsche
geltend zu machen, andre ökonomische Schwierigkeiten zu überwinden, eine andre
Art der Entwicklung und auch ein andres Ziel vor Angen als die industrielle
Genossenschaft, als das Beamtentum oder der Handelsstand. Gewiß wird ein¬
mal die Zeit kommen, wo man es nicht begreifen wird, daß alle diese hetero¬
genen, sich teils ignorirenden, teils bekämpfenden Interessen nach ein und der¬
selben Schablone beurteilt, bewertet und behandelt wurden.
Aber selbst wenn wir uns die fortschrittliche Fiktion des „Volksstaates"
aneignen wollten, würde sich die Frage aufwerfen lassen: Wie gelangt in dem
gewiesenen Rahmen der Reichsverfassung die Volksmeinung am klarsten zum
öffentlichen Ausdruck? Stellt sich in der Person des heutigen Reichstags-
abgeordneten die Quintessenz der politischen Anschauungen am korrektesten dar?
Doch wohl nur diejenige des Wahlbezirks, aus dem er hervorgegangen, und auch
nur die der Majorität! Die Minorität bleibt unvertreten, mag sie auch der
Mehrheit bis auf wenige Stimmen nahekommen. In keinem Falle ist also der
Reichstag .der Vertreter der allgemeinen Volksstimmung, sondern nur der
Mehrheit der überhaupt abgegebenen Stimmen. Unbeteiligt bleiben bei diesem
Mandat die geschlagner Minoritäten, alle, welche nicht gewählt haben, alle nicht
Wahlfähigen und das aktive Heer. Es kann also nnr auf Irrtum oder absicht¬
licher Täuschung beruhen, wenn man die ehrenwerten Mitglieder des Reichstages
als Mandatare des „Volkes." hinstellt. Aber gehen wir noch einen Schritt
weiter! Beschränken wir uns selbst auf die Zahl der abgegebenen Stimmen
und scheiden wir alle durch das Gesetz oder die eigne Gleichgiltigkeit vom Wahl¬
kampf ferngehaltenen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft aus. Aeeeptiren
wir einmal versuchsweise den Ausdruck „Volk" für alle an die Urne heran¬
tretenden Wähler. Wie setzt sich da die Volksmeinung, ja selbst auch nur die
Parteigruppirnng zusammen? Doch nur aus einzelnen individuellen Ansichten.
Worauf gründen sich diese? Auf Lebensstellung, Erfahrung, Erziehung, soweit
sie der Eigenart des Individuums ihren Ursprung verdankt; auf blindes Ver¬
trauen, insofern sie sich der Führerschaft einer fremden Autorität anschließen.
Wir überlassen es der objektive» Beurteilung des Lesers, zu entscheiden, welcher
dieser beiden Faktoren bei der Neichstagswahl mehr ins Gewicht fällt, wie weit
also die Wahlen auf Grund eigner politischer Überzeugung des Individuums,
wie weit sie unter den: Drucke fremder Einwirkungen stattfinden. Von selbst-
crworbener Überzeugung kann überhaupt nur bei einem sehr kleinen Teile der
Bevölkerung die Rede sein. Politische Bildung ist das Produkt von Beobachtung
und Erfahrung; sie erfordert Zeit und ist nicht das Gemeingut aller Stunde.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |