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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Homo ""pivus ksru" 1^.

hat sie für die Biologie und einen ganz besondern für die Psychologie, Deal
sie hat den Beweis, den einst der Mongolenfürst Akebar durch ein ebenso sinn¬
reiches als barbarisches Experiment, die Absperrung von dreißig unmündigen
Kindern, herstellen wollte, vollständig dafür erbracht, daß Sprach- und Vernunft¬
bildung sich niemals aus dem einzelnen Individuum entwickelt, sondern das Er¬
gebnis des geselligen Verkehrs einer größeren Mehrheit von Individuen ist.

Unsre Schrift*) besteht aus zwei Teilen, einem kleineren, der das Unter-
suchuugsmaterial kritisch sichtet, und einem größeren, der die aus den Thatsachen
sich ergebenden Folgerungen zu einer Nutzanwendung auf die Jugendbildung ver¬
wertet.

Die literarisch bekannten Wildlinge sind folgende: 1. 2. die beiden hessischen
Knaben, 3. der Bamberger Knabe, 4. der Lütticher Hans, 5. der irische Jüng¬
ling, 6. 7. 8. die drei lithauischen Knaben, 9. das Mädchen von Crnucnburg,
10. 11. die pyrenciischen Knaben, 12. der wilde Peter von Hameln, 13. das
Mädchen von Songi in der Champagne, 14. das ungarische Bäremnädchen,
15. der Wilde vou Kronstäbe, 16. der Knabe von Aveyron. Neun von diesen
Individuen hat schon Linne in seinem Buch der Natur nach seiner streng syste¬
matischen Weise benannt: .luvsnis urLinus I^itlrnimus u. s. w. Die übrigen sieben
hat der Verfasser aus andern Quellen zusammengetragen. Ihre Fundzeit fällt
in den Zeitraum zwischen 1340 und 1800. Dreizehn gehören dem männlichen,
drei dem weiblichen Geschlechte an. Ihr -- selbstverständlich nur geschätztes --
Alter bewegt sich zwischen dem 7. und dem 25. Lebensjahre. Nur ein Indi¬
viduum, das Mädchen von Songi, das später den Namen Le Blanc führte,
erfreute sich einer vollständigeren Lebensbeschreibung mit der einzigen Lücke des
Zeitraums vor ihrem Eintritt in die Gesellschaft. Von den beiden hessischen
Knaben erlag der eine frühzeitig dem Humanisirungsprozeß. Die andern über¬
standen zwar diese gefährliche Krisis, aber die weiteren Nachrichten über sie sind
äußerst dürftig. Nur von dreien ist die ausdrückliche Angabe zu uus gelangt,
daß sie es zur Sprache gebracht haben. Vou mehreren jedoch ist dies wenigstens
wahrscheinlich gemacht worden. Von dreien ferner, dem wilden Peter von Hameln
(12), dem Wilden von Kronstäbe (15) und dem Knaben von Aveyron (16), darf
unsers Erachtens mit Sicherheit angenommen werden, daß sie Schwachsinnige
oder Idioten der leichteren Grade, sonach bildnngsunfähig waren, weil bei ihnen
zur ursprünglichen Verkümmerung des Seelenorgans noch frühzeitige Verwil¬
derung hinzugekommen war.

Da der Verfasser selbst sich mit einer eingehenden Beurteilung dieser Wild¬
linge nicht befaßt, vielmehr sogleich zur Deduktion seiner weitergehenden Fol¬
gerungen übergeht, so wollen auch wir uns zunächst mit diesem epikritischen



6) Der vollständige Titel derselben ist: Homo "!,.xioirs l'vrus 1^. oder die Zustände
der Verwilderten. Eine biologische Untersuchung von I)r. A. Rnuber. Leipzig, 138S.
Homo «»pivus ksru» 1^.

hat sie für die Biologie und einen ganz besondern für die Psychologie, Deal
sie hat den Beweis, den einst der Mongolenfürst Akebar durch ein ebenso sinn¬
reiches als barbarisches Experiment, die Absperrung von dreißig unmündigen
Kindern, herstellen wollte, vollständig dafür erbracht, daß Sprach- und Vernunft¬
bildung sich niemals aus dem einzelnen Individuum entwickelt, sondern das Er¬
gebnis des geselligen Verkehrs einer größeren Mehrheit von Individuen ist.

Unsre Schrift*) besteht aus zwei Teilen, einem kleineren, der das Unter-
suchuugsmaterial kritisch sichtet, und einem größeren, der die aus den Thatsachen
sich ergebenden Folgerungen zu einer Nutzanwendung auf die Jugendbildung ver¬
wertet.

Die literarisch bekannten Wildlinge sind folgende: 1. 2. die beiden hessischen
Knaben, 3. der Bamberger Knabe, 4. der Lütticher Hans, 5. der irische Jüng¬
ling, 6. 7. 8. die drei lithauischen Knaben, 9. das Mädchen von Crnucnburg,
10. 11. die pyrenciischen Knaben, 12. der wilde Peter von Hameln, 13. das
Mädchen von Songi in der Champagne, 14. das ungarische Bäremnädchen,
15. der Wilde vou Kronstäbe, 16. der Knabe von Aveyron. Neun von diesen
Individuen hat schon Linne in seinem Buch der Natur nach seiner streng syste¬
matischen Weise benannt: .luvsnis urLinus I^itlrnimus u. s. w. Die übrigen sieben
hat der Verfasser aus andern Quellen zusammengetragen. Ihre Fundzeit fällt
in den Zeitraum zwischen 1340 und 1800. Dreizehn gehören dem männlichen,
drei dem weiblichen Geschlechte an. Ihr — selbstverständlich nur geschätztes —
Alter bewegt sich zwischen dem 7. und dem 25. Lebensjahre. Nur ein Indi¬
viduum, das Mädchen von Songi, das später den Namen Le Blanc führte,
erfreute sich einer vollständigeren Lebensbeschreibung mit der einzigen Lücke des
Zeitraums vor ihrem Eintritt in die Gesellschaft. Von den beiden hessischen
Knaben erlag der eine frühzeitig dem Humanisirungsprozeß. Die andern über¬
standen zwar diese gefährliche Krisis, aber die weiteren Nachrichten über sie sind
äußerst dürftig. Nur von dreien ist die ausdrückliche Angabe zu uus gelangt,
daß sie es zur Sprache gebracht haben. Vou mehreren jedoch ist dies wenigstens
wahrscheinlich gemacht worden. Von dreien ferner, dem wilden Peter von Hameln
(12), dem Wilden von Kronstäbe (15) und dem Knaben von Aveyron (16), darf
unsers Erachtens mit Sicherheit angenommen werden, daß sie Schwachsinnige
oder Idioten der leichteren Grade, sonach bildnngsunfähig waren, weil bei ihnen
zur ursprünglichen Verkümmerung des Seelenorgans noch frühzeitige Verwil¬
derung hinzugekommen war.

Da der Verfasser selbst sich mit einer eingehenden Beurteilung dieser Wild¬
linge nicht befaßt, vielmehr sogleich zur Deduktion seiner weitergehenden Fol¬
gerungen übergeht, so wollen auch wir uns zunächst mit diesem epikritischen



6) Der vollständige Titel derselben ist: Homo »!,.xioirs l'vrus 1^. oder die Zustände
der Verwilderten. Eine biologische Untersuchung von I)r. A. Rnuber. Leipzig, 138S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/182>, abgerufen am 15.01.2025.