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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassemvahl.

in dem Wahlbezirk seinen Wohnsitz zu haben. Er kann in Danzig leben und eine
rheinische Wählcrgruppe vertreten. Er ist weder gehalten, die eigenartigen Ver¬
hältnisse und lokalen Bedürfnisse des Wahlbezirkes zu kennen, noch weniger
verpflichtet, ihnen nach erfolgter Wahl ein besondres Studium zuzuwenden
oder die Wünsche seiner Wählerschaft im Reichstage zu Gehör zu bringen,
Thut er es, so geschieht es aus gutem Willen; täuscht er sich über die Tendenz
dieser Wünsche, so ist er für den Irrtum nicht verantwortlich. Man erwartet
im ganzen von ihm nur, daß er im Reichstage mit derjenigen Partei stimme,
deren Einfluß er sein Mandat verdankt. In dieser Zusammensetzung kann ein
Parlament niemals als Volksvertretung im eigentlichen Sinne, als ein Ausschuß
zur Wahrung der Volksbedürfnisse, der Volksinteressen gelten; es ist nur eine
abstrakte Wiedergabe der jeweiligen politischen Strömungen und teilt deren Un¬
beständigkeit.

Und wie ist es ihm möglich, all den Aufgaben gerecht zu werden, welche
im Laufe der Verhandlungen auftauchen! In diesen Beratungen spiegelt sich
das ganze Volksleben in seinen vielgestaltigen Erscheinungsformen. In keiner
Epoche war das Kulturleben so komplizirt, so mannichfaltig, und dennoch erhebt
das parlamentarische Regime deu Anspruch, in allen Bedürfnisfragen kompetent
zu sein. Keine der schwebenden Fragen, mag sie wichtig oder unbedeutend sein,
will der Parlamentarismus seiner Entscheidung entzogen sehen. Welche um-
fassenden Kenntnisse setzt er bei den Abgeordneten voraus. Politik, Verwal¬
tung, Wissenschaft, Kunst, Religion, Volkswirtschaft, Handel, Heerwesen nud
Gesetzgebung, alles wird seinem Urteil unterbreitet. In allen Fragen soll sein
Votum einer sachgemäße" Prüfung entspringen. Er soll sich heute über die Be¬
soldung eines subalternen Beamten, morgen über die Lösung eines sozialen
Problems, übermorgen über Kolonialpolitik oder Aktiengcsetzgcbung aussprechen,
alles verstehen, alles beurteilen, nichts übersehen, die ländlichen wie die städti¬
schen Verhältnisse in Rechnung ziehen, das Budget prüfen, Vorschlüge zur Ab¬
hilfe von Mißständen machen, die Vorgeschichte des Landes kennen, die Be¬
dürfnisse der Gegenwart richtig erfassen und die Zukunft nicht aus dem Auge
verlieren. Der Abgeordnete müßte, wenn er diesen Anforderungen entsprechen
sollte, Jurist, Philosoph, Verwaltungsbeamter, Soldat, Finanzier -- alles in
einer Person sein; das Durchschnittsmaß aller Fähigkeiten, Kenntnisse und mo¬
ralischen Eigenschaften, welche alle Verufsgattungen verlangen, würde noch nicht
genügen, ihn für die Erfüllung seiner Pflichten geschickt zu machen. Und da
man Unmögliches fordert, wird wenig geleistet. Hui trox "zurbrgWö, uni
vtrewt. Die Hauptarbeit in allen praktischen Fragen fällt den Kommissionen
zu, in denen auch nur wieder drei oder vier Experte ihre Spezialkeuntnisse
zur Verwendung bringen. Die große Menge der Parlamentsmitglieder folgt
den Parteiführern und urteilt nicht auf Grund sachlicher Erwägung, sondern
politischer Eingebung. So wird das Parlament zum politischen Klub.


Die proportionale Berufsklassemvahl.

in dem Wahlbezirk seinen Wohnsitz zu haben. Er kann in Danzig leben und eine
rheinische Wählcrgruppe vertreten. Er ist weder gehalten, die eigenartigen Ver¬
hältnisse und lokalen Bedürfnisse des Wahlbezirkes zu kennen, noch weniger
verpflichtet, ihnen nach erfolgter Wahl ein besondres Studium zuzuwenden
oder die Wünsche seiner Wählerschaft im Reichstage zu Gehör zu bringen,
Thut er es, so geschieht es aus gutem Willen; täuscht er sich über die Tendenz
dieser Wünsche, so ist er für den Irrtum nicht verantwortlich. Man erwartet
im ganzen von ihm nur, daß er im Reichstage mit derjenigen Partei stimme,
deren Einfluß er sein Mandat verdankt. In dieser Zusammensetzung kann ein
Parlament niemals als Volksvertretung im eigentlichen Sinne, als ein Ausschuß
zur Wahrung der Volksbedürfnisse, der Volksinteressen gelten; es ist nur eine
abstrakte Wiedergabe der jeweiligen politischen Strömungen und teilt deren Un¬
beständigkeit.

Und wie ist es ihm möglich, all den Aufgaben gerecht zu werden, welche
im Laufe der Verhandlungen auftauchen! In diesen Beratungen spiegelt sich
das ganze Volksleben in seinen vielgestaltigen Erscheinungsformen. In keiner
Epoche war das Kulturleben so komplizirt, so mannichfaltig, und dennoch erhebt
das parlamentarische Regime deu Anspruch, in allen Bedürfnisfragen kompetent
zu sein. Keine der schwebenden Fragen, mag sie wichtig oder unbedeutend sein,
will der Parlamentarismus seiner Entscheidung entzogen sehen. Welche um-
fassenden Kenntnisse setzt er bei den Abgeordneten voraus. Politik, Verwal¬
tung, Wissenschaft, Kunst, Religion, Volkswirtschaft, Handel, Heerwesen nud
Gesetzgebung, alles wird seinem Urteil unterbreitet. In allen Fragen soll sein
Votum einer sachgemäße» Prüfung entspringen. Er soll sich heute über die Be¬
soldung eines subalternen Beamten, morgen über die Lösung eines sozialen
Problems, übermorgen über Kolonialpolitik oder Aktiengcsetzgcbung aussprechen,
alles verstehen, alles beurteilen, nichts übersehen, die ländlichen wie die städti¬
schen Verhältnisse in Rechnung ziehen, das Budget prüfen, Vorschlüge zur Ab¬
hilfe von Mißständen machen, die Vorgeschichte des Landes kennen, die Be¬
dürfnisse der Gegenwart richtig erfassen und die Zukunft nicht aus dem Auge
verlieren. Der Abgeordnete müßte, wenn er diesen Anforderungen entsprechen
sollte, Jurist, Philosoph, Verwaltungsbeamter, Soldat, Finanzier — alles in
einer Person sein; das Durchschnittsmaß aller Fähigkeiten, Kenntnisse und mo¬
ralischen Eigenschaften, welche alle Verufsgattungen verlangen, würde noch nicht
genügen, ihn für die Erfüllung seiner Pflichten geschickt zu machen. Und da
man Unmögliches fordert, wird wenig geleistet. Hui trox «zurbrgWö, uni
vtrewt. Die Hauptarbeit in allen praktischen Fragen fällt den Kommissionen
zu, in denen auch nur wieder drei oder vier Experte ihre Spezialkeuntnisse
zur Verwendung bringen. Die große Menge der Parlamentsmitglieder folgt
den Parteiführern und urteilt nicht auf Grund sachlicher Erwägung, sondern
politischer Eingebung. So wird das Parlament zum politischen Klub.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/18>, abgerufen am 15.01.2025.