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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Bernfsklassenwahl.

ängstlich festgehalten. An die Stelle des Korporationsinteresses ist das Jndi-
vidnalinteresse zum leitenden Grundsatz erhoben. Aber indem man die Wähler-
massc in einzelne Atome zerlegte, welche an sich vereinzelt nichts bedeuten,
nichts vorstellen, nichts vertreten als ihren eignen, winzigen Anteil am Gesamt¬
interesse, übersah man, daß diese Atome sich notwendigerweise wieder zu Meinnngs-
grnppen verdichten mußten, wenn sie zu einer Aktion im Staatsleben gelangen
wollten. Wir gestehen dem einzelnen Wähler keine besondre Berücksichtigung
seiner Wünsche, Klagen und Vorschläge zu. Nur die Häufigkeit der gleichen
Anschauung entscheidet über das Maß an Beachtung, das wir ihr schenken.
So entscheidet schließlich wieder die Gruppenbildung, aber nicht eine organisch
gegliederte, sondern die zufällig numerische Ansammlung. Die Herrschaft bevor¬
rechteter Klassen, mögen diese nnn feudaler oder demokratischer Natur gewesen
sein, ist verdrängt durch die Herrschaft der Zahl, das persönliche Regime ver¬
tauscht mit einem unpersönlichen. Ein schwankender Begriff vertritt das feste
Gefüge einer organischen Jntcressenbildnng.

Gewiß hat die Zahl als Ausdruck der Häufigkeit ihren Wert und ihre
Bedeutuug in der realen Welt. Sie bedeutet etwas, aber nicht alles. Auch
ihre Alleinherrschaft kann zu Mißbräuchen führen, und sie thut dies schou
gegenwärtig. Oder ist es nicht ein Mißbrauch der Gewalt, wenn die Hälfte
einer Wählerschaft plus einer Stimme der Minorität Gesetze vorschreibt und
ihren Sieg in jeder Weise ausbeutet? Liegt nicht eine gewisse Brutalität in
diesem Verfahren, das nichts andres darstellt als eine praktische Ausübung des
Rechtes des Stärkeren? Und wie nnn, wenn diese herrschende Majorität, gegen
deren gesetzlichen Despotismus es keinen Appell giebt, ihren Sieg lediglich
einer zufälligen, lokalen Anhäufung ihrer Mitglieder verdankt. Warum soll
hier die räumliche Anordnung entscheiden? Unmöglich kann der Wahlkreis
als organische Einheit aufgefaßt werden. Und dennoch blieb überall, wo die
Fiktion der Gleichberechtigung der Stimmender dem Wahlsystem zu gründe
lag, nichts übrig als die räumliche Abgrenzung. In Deutschland und Frank¬
reich ist der Einteilung in Wahlbezirke die Einheit von 100000 Köpfen zu
gründe gelegt; in Amerika umfaßt sie eine Einwohnerschaft von 130000, in
Belgien von etwa 40 000 Seelen. Bald ist die Wählerschaft eine zahlreiche
infolge der Gewährung allgemeinen Stimmrechts, bald ist sie durch einen Zensus
beschränkt. Aber immer ist das Verfahren das gleiche. Man sammelt die
Wähler, wo sie sich gerade zusammenfinden; nirgends besteht eine soziale Glie¬
derung. 14- bis 20 000 Wähler erscheinen an einem bestimmten Tage an der
Urne. Sie sind durchaus verschieden an Erziehung, Anschauung, politischem
Urteil und sittlicher Beschaffenheit. Sie kennen einander so wenig wie den¬
jenigen, dem sie ihre Stimme geben sollen und dessen politischen Theorien sie
vielleicht ein- oder zweimal in einer Wahlversammlung flüchtig gehört, selten
ganz verstanden haben. Er braucht kein Mitglied ihrer Gemeinde zu sein oder


Grenzboten IV. 188ü.^ 2
Die proportionale Bernfsklassenwahl.

ängstlich festgehalten. An die Stelle des Korporationsinteresses ist das Jndi-
vidnalinteresse zum leitenden Grundsatz erhoben. Aber indem man die Wähler-
massc in einzelne Atome zerlegte, welche an sich vereinzelt nichts bedeuten,
nichts vorstellen, nichts vertreten als ihren eignen, winzigen Anteil am Gesamt¬
interesse, übersah man, daß diese Atome sich notwendigerweise wieder zu Meinnngs-
grnppen verdichten mußten, wenn sie zu einer Aktion im Staatsleben gelangen
wollten. Wir gestehen dem einzelnen Wähler keine besondre Berücksichtigung
seiner Wünsche, Klagen und Vorschläge zu. Nur die Häufigkeit der gleichen
Anschauung entscheidet über das Maß an Beachtung, das wir ihr schenken.
So entscheidet schließlich wieder die Gruppenbildung, aber nicht eine organisch
gegliederte, sondern die zufällig numerische Ansammlung. Die Herrschaft bevor¬
rechteter Klassen, mögen diese nnn feudaler oder demokratischer Natur gewesen
sein, ist verdrängt durch die Herrschaft der Zahl, das persönliche Regime ver¬
tauscht mit einem unpersönlichen. Ein schwankender Begriff vertritt das feste
Gefüge einer organischen Jntcressenbildnng.

Gewiß hat die Zahl als Ausdruck der Häufigkeit ihren Wert und ihre
Bedeutuug in der realen Welt. Sie bedeutet etwas, aber nicht alles. Auch
ihre Alleinherrschaft kann zu Mißbräuchen führen, und sie thut dies schou
gegenwärtig. Oder ist es nicht ein Mißbrauch der Gewalt, wenn die Hälfte
einer Wählerschaft plus einer Stimme der Minorität Gesetze vorschreibt und
ihren Sieg in jeder Weise ausbeutet? Liegt nicht eine gewisse Brutalität in
diesem Verfahren, das nichts andres darstellt als eine praktische Ausübung des
Rechtes des Stärkeren? Und wie nnn, wenn diese herrschende Majorität, gegen
deren gesetzlichen Despotismus es keinen Appell giebt, ihren Sieg lediglich
einer zufälligen, lokalen Anhäufung ihrer Mitglieder verdankt. Warum soll
hier die räumliche Anordnung entscheiden? Unmöglich kann der Wahlkreis
als organische Einheit aufgefaßt werden. Und dennoch blieb überall, wo die
Fiktion der Gleichberechtigung der Stimmender dem Wahlsystem zu gründe
lag, nichts übrig als die räumliche Abgrenzung. In Deutschland und Frank¬
reich ist der Einteilung in Wahlbezirke die Einheit von 100000 Köpfen zu
gründe gelegt; in Amerika umfaßt sie eine Einwohnerschaft von 130000, in
Belgien von etwa 40 000 Seelen. Bald ist die Wählerschaft eine zahlreiche
infolge der Gewährung allgemeinen Stimmrechts, bald ist sie durch einen Zensus
beschränkt. Aber immer ist das Verfahren das gleiche. Man sammelt die
Wähler, wo sie sich gerade zusammenfinden; nirgends besteht eine soziale Glie¬
derung. 14- bis 20 000 Wähler erscheinen an einem bestimmten Tage an der
Urne. Sie sind durchaus verschieden an Erziehung, Anschauung, politischem
Urteil und sittlicher Beschaffenheit. Sie kennen einander so wenig wie den¬
jenigen, dem sie ihre Stimme geben sollen und dessen politischen Theorien sie
vielleicht ein- oder zweimal in einer Wahlversammlung flüchtig gehört, selten
ganz verstanden haben. Er braucht kein Mitglied ihrer Gemeinde zu sein oder


Grenzboten IV. 188ü.^ 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/17>, abgerufen am 15.01.2025.