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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Der jüngste Berliner Skandalprozeß.

richterliche Thätigkeit zu rechtfertigen. Es erscheint deshalb notwendig, daß
wenigstens die frühere Vorschrift, wie sie in Altpreußen bestand, wiederhergestellt
und eine summarische Notiz über die Zeugenaussagen in das Protokoll auf¬
genommen werde. Zur Ergänzung wird freilich eine Bestimmung erforderlich
sein, wonach wieder als Regel die Vereidigung der Zeugen in der Vorunter¬
suchung -- wie dies früher der Fall war -- eingeführt werde. Jetzt tritt eine
Vereidigung nicht ein, die vernommenen Personen können alles Mögliche zu¬
sammenkugelt und erst unter dem Eide der mündlichen Verhandlung ihre Aus¬
sage ändern. Wer aber einen Meineid schwören will, für den ist sein Vor¬
haben dnrch den Umstand, daß seine Aussage nicht aufgezeichnet wird, in der
That erheblich erleichtert. Es finden sich immer wieder neue Mängel unsers
neuen Verfahrens, die der bessernden Hand harren.

Ein Schriftsteller, der sich eines großen Ansehens beim Publikum erfreut,
bezeichnete den in diesem Prozesse besonders in die Erscheinung getretenen Vor¬
gang, daß das intimste Leben der Angeklagten in die peinlichste Erörterung
gezogen und vor aller Welt aufgedeckt wurde, als eine Folter schlimmerer Art,
als es diejenige des Mittelalters war. Zunächst mag der Tendenz dieses Auf¬
satzes gemäß unerörtert bleiben, ob das vorliegenden Falles beobachtete Ver¬
fahren innerlich gerechtfertigt und in dieser Hinsicht nicht des Guten zu viel
gethan war. Weniger wäre hier mehr gewesen und hätte der Erforschung der
Wahrheit besser gedient. Allein das Mitleiden, welches der Autor hier dem
Angeklagten zuwendet, sollte er bei seiner anerkannten Menschlichkeit gegenüber
der Verteidigung auch den Zeugen widmen. Vielleicht erinnert er sich noch des
Stöcker-Prozesses, in welchem der als Zeuge geladene Hofprediger von den An¬
wälten einem Verhöre ausgesetzt wurde, das sein Vorleben bis auf seine Knaben¬
zeit beleuchten und ermitteln sollte. Würde doch unter anderen die Frage vorgelegt,
ob der Zeuge nicht schon auf der Schule als lügenhafter Knabe bekannt gewesen
sei. Damals hat sich das Mitleiden des geschätzten Literaten nicht geäußert, und
wir sollten doch meinen, daß, so wenig Sympathie wir auch sonst für Herrn
Stöcker hegen, ein Hofprediger mindestens auf dieselbe Schonung Anspruch habe,
wie eine unter sittcnpolizcilicher Kontrole stehende Straßendirne. Oder lautet
hier das Urteil anders? Aber nicht darin liegt der Mangel des Verfahrens,
daß solche intime Dinge zur Erörterung gezogen worden sind; denn auch wer
die größte Milde und Konnivenz walten läßt, wird zugeben müssen, daß jeder
von den Angeklagten sich selbst in diese Lage gebracht hat, daß sein Thun und
Handeln zu der gerichtlichen Untersuchung Anlaß bot und daß im großen und
ganzen doch jeder redliche Mann es vermeiden kann, auf die Anklagebank zu
kommen und dem Richter sein ganzes inneres Leben enthüllen zu müssen. Ge¬
schieht das vor den vier Wänden des Gerichtssaales, vor den zum Amts¬
geheimnis verpflichteten Urteilsfindern, so ist das Unglück nicht allzugroß.
Anders aber ist es, wenn diese intimen Gedanken aus der heiligen Abgeschieden-


Der jüngste Berliner Skandalprozeß.

richterliche Thätigkeit zu rechtfertigen. Es erscheint deshalb notwendig, daß
wenigstens die frühere Vorschrift, wie sie in Altpreußen bestand, wiederhergestellt
und eine summarische Notiz über die Zeugenaussagen in das Protokoll auf¬
genommen werde. Zur Ergänzung wird freilich eine Bestimmung erforderlich
sein, wonach wieder als Regel die Vereidigung der Zeugen in der Vorunter¬
suchung — wie dies früher der Fall war — eingeführt werde. Jetzt tritt eine
Vereidigung nicht ein, die vernommenen Personen können alles Mögliche zu¬
sammenkugelt und erst unter dem Eide der mündlichen Verhandlung ihre Aus¬
sage ändern. Wer aber einen Meineid schwören will, für den ist sein Vor¬
haben dnrch den Umstand, daß seine Aussage nicht aufgezeichnet wird, in der
That erheblich erleichtert. Es finden sich immer wieder neue Mängel unsers
neuen Verfahrens, die der bessernden Hand harren.

Ein Schriftsteller, der sich eines großen Ansehens beim Publikum erfreut,
bezeichnete den in diesem Prozesse besonders in die Erscheinung getretenen Vor¬
gang, daß das intimste Leben der Angeklagten in die peinlichste Erörterung
gezogen und vor aller Welt aufgedeckt wurde, als eine Folter schlimmerer Art,
als es diejenige des Mittelalters war. Zunächst mag der Tendenz dieses Auf¬
satzes gemäß unerörtert bleiben, ob das vorliegenden Falles beobachtete Ver¬
fahren innerlich gerechtfertigt und in dieser Hinsicht nicht des Guten zu viel
gethan war. Weniger wäre hier mehr gewesen und hätte der Erforschung der
Wahrheit besser gedient. Allein das Mitleiden, welches der Autor hier dem
Angeklagten zuwendet, sollte er bei seiner anerkannten Menschlichkeit gegenüber
der Verteidigung auch den Zeugen widmen. Vielleicht erinnert er sich noch des
Stöcker-Prozesses, in welchem der als Zeuge geladene Hofprediger von den An¬
wälten einem Verhöre ausgesetzt wurde, das sein Vorleben bis auf seine Knaben¬
zeit beleuchten und ermitteln sollte. Würde doch unter anderen die Frage vorgelegt,
ob der Zeuge nicht schon auf der Schule als lügenhafter Knabe bekannt gewesen
sei. Damals hat sich das Mitleiden des geschätzten Literaten nicht geäußert, und
wir sollten doch meinen, daß, so wenig Sympathie wir auch sonst für Herrn
Stöcker hegen, ein Hofprediger mindestens auf dieselbe Schonung Anspruch habe,
wie eine unter sittcnpolizcilicher Kontrole stehende Straßendirne. Oder lautet
hier das Urteil anders? Aber nicht darin liegt der Mangel des Verfahrens,
daß solche intime Dinge zur Erörterung gezogen worden sind; denn auch wer
die größte Milde und Konnivenz walten läßt, wird zugeben müssen, daß jeder
von den Angeklagten sich selbst in diese Lage gebracht hat, daß sein Thun und
Handeln zu der gerichtlichen Untersuchung Anlaß bot und daß im großen und
ganzen doch jeder redliche Mann es vermeiden kann, auf die Anklagebank zu
kommen und dem Richter sein ganzes inneres Leben enthüllen zu müssen. Ge¬
schieht das vor den vier Wänden des Gerichtssaales, vor den zum Amts¬
geheimnis verpflichteten Urteilsfindern, so ist das Unglück nicht allzugroß.
Anders aber ist es, wenn diese intimen Gedanken aus der heiligen Abgeschieden-


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[0157] Der jüngste Berliner Skandalprozeß. richterliche Thätigkeit zu rechtfertigen. Es erscheint deshalb notwendig, daß wenigstens die frühere Vorschrift, wie sie in Altpreußen bestand, wiederhergestellt und eine summarische Notiz über die Zeugenaussagen in das Protokoll auf¬ genommen werde. Zur Ergänzung wird freilich eine Bestimmung erforderlich sein, wonach wieder als Regel die Vereidigung der Zeugen in der Vorunter¬ suchung — wie dies früher der Fall war — eingeführt werde. Jetzt tritt eine Vereidigung nicht ein, die vernommenen Personen können alles Mögliche zu¬ sammenkugelt und erst unter dem Eide der mündlichen Verhandlung ihre Aus¬ sage ändern. Wer aber einen Meineid schwören will, für den ist sein Vor¬ haben dnrch den Umstand, daß seine Aussage nicht aufgezeichnet wird, in der That erheblich erleichtert. Es finden sich immer wieder neue Mängel unsers neuen Verfahrens, die der bessernden Hand harren. Ein Schriftsteller, der sich eines großen Ansehens beim Publikum erfreut, bezeichnete den in diesem Prozesse besonders in die Erscheinung getretenen Vor¬ gang, daß das intimste Leben der Angeklagten in die peinlichste Erörterung gezogen und vor aller Welt aufgedeckt wurde, als eine Folter schlimmerer Art, als es diejenige des Mittelalters war. Zunächst mag der Tendenz dieses Auf¬ satzes gemäß unerörtert bleiben, ob das vorliegenden Falles beobachtete Ver¬ fahren innerlich gerechtfertigt und in dieser Hinsicht nicht des Guten zu viel gethan war. Weniger wäre hier mehr gewesen und hätte der Erforschung der Wahrheit besser gedient. Allein das Mitleiden, welches der Autor hier dem Angeklagten zuwendet, sollte er bei seiner anerkannten Menschlichkeit gegenüber der Verteidigung auch den Zeugen widmen. Vielleicht erinnert er sich noch des Stöcker-Prozesses, in welchem der als Zeuge geladene Hofprediger von den An¬ wälten einem Verhöre ausgesetzt wurde, das sein Vorleben bis auf seine Knaben¬ zeit beleuchten und ermitteln sollte. Würde doch unter anderen die Frage vorgelegt, ob der Zeuge nicht schon auf der Schule als lügenhafter Knabe bekannt gewesen sei. Damals hat sich das Mitleiden des geschätzten Literaten nicht geäußert, und wir sollten doch meinen, daß, so wenig Sympathie wir auch sonst für Herrn Stöcker hegen, ein Hofprediger mindestens auf dieselbe Schonung Anspruch habe, wie eine unter sittcnpolizcilicher Kontrole stehende Straßendirne. Oder lautet hier das Urteil anders? Aber nicht darin liegt der Mangel des Verfahrens, daß solche intime Dinge zur Erörterung gezogen worden sind; denn auch wer die größte Milde und Konnivenz walten läßt, wird zugeben müssen, daß jeder von den Angeklagten sich selbst in diese Lage gebracht hat, daß sein Thun und Handeln zu der gerichtlichen Untersuchung Anlaß bot und daß im großen und ganzen doch jeder redliche Mann es vermeiden kann, auf die Anklagebank zu kommen und dem Richter sein ganzes inneres Leben enthüllen zu müssen. Ge¬ schieht das vor den vier Wänden des Gerichtssaales, vor den zum Amts¬ geheimnis verpflichteten Urteilsfindern, so ist das Unglück nicht allzugroß. Anders aber ist es, wenn diese intimen Gedanken aus der heiligen Abgeschieden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/157>, abgerufen am 15.01.2025.