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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Der jüngste Berliner Skandalprozeß.

hat dem Gerichtsbeschluß seine volle Bedeutung entzogen. Für die Zeitungen exi-
stirt das Verbot der Öffentlichkeit nicht; sie brachten alles wortgetreu, soweit das
Preßgesetz und das Strafgesetzbuch eben gestatten, schamlose Dinge öffentlich zu
erörtern -- und das ist weit. Denn schon versteht die keusche deutsche Sprache
nach französischem Muster auch die unglaublichsten Dinge so zu sagen, daß der
Verfasser durch die Maschen des Strafgesetzes schlüpft und trotzdem der Kitzel
der Menge angeregt wird.

Man fühlte es in den besseren Kreisen wie einen Schlag, als eines schönen
Abends die Blätter einen Gerichtsbericht brachten, der auch dem gereifteren
Manne die Note der Scham ins Gesicht trieb, und das alles war nicht bloß
in einem französischen Roman, sondern in einer deutsche" Zeitung zu lesen, die
der Frau wie den Kindern des Hauses offen liegt. Ein einziges Blatt hat in
Berlin den Prozeß gänzlich ignorirt, es war dies die "Germania," und wir
müssen mit Schmerz bekennen, daß das Jesnitenblatt diesmal die höchste Aner¬
kennung verdient; ihm am nächsten steht die "Kreuzzeitung," welche zwar Berichte
gab, aber doch in einer sehr diskreten Weise. Alle übrigen Zeitungen überboten
sich in der Genauigkeit der Referate, selbst Blätter, die sonst darauf halten,
daß sich in ihre Spalten kein unkeusches Wort verirrt. Dieselben befanden sich
aber durch jene Maßregel des Vorsitzenden in einer Zwangslage; nachdem die
Menge einmal lüstern gemacht worden war, wurden die Zeitungen, in denen
die Berichte genan standen, fehr begehrt. Der Quartalwechsel mit seiner
Abvnnemeiltslonkurrenz stand vor der Thür; die clirg, usogssitW macht oft die
besten Vorsätze zunichte, und so ergoß sich denn die Kloake aus dem Gerichts¬
gebäude, in welcher sie nach dem Gesetz hätte hermetisch verschlossen sein sollen,
in unzähligen Kanälen über die ganze Stadt und weiter über das Reich.

Aber es war dies nicht genug. Die Zeitungen zeigten bald mehr oder
weniger Teilnahme für den .Hauptangeklagten; sie ergriffen Partei für denselben,
färbten darnach ihre Berichte und knüpften Reflexionen an dieselben. Es war nur zu
natürlich, daß ein Einfluß auf die Zeugen und Geschworenen, beabsichtigt oder
nicht, eintreten mußte. Dem Vorsitzenden des Schwurgerichtes ging es wie dem
Goethischen Zauberlehrling, ihm wurde selbst bange vor den Folgen der von
ihm gewährten Erlaubnis; aber statt die Geister zu bannen und sie aus dem
Zuschauerraum zu vertreiben, glaubte er mit einer Zauberformel die Flut dämmen
zu können -- einer Zauberformel, die besser ungesprochen geblieben wäre. Der
Vorsitzende rechtfertigte nämlich nach den Zeitungen die von ihm gewählte Maxime:
er habe der Presse den Zutritt gewährt, damit das Publikum einerseits die Schuld
des Hauptangeklagten nicht für schwerer erachte, als sie wirklich sei, und damit
es anderseits nicht etwa glaube, daß die Anklage frivol erhoben worden sei.

Diese Worte aus dem Munde eines Gerichtsvorsitzenden müssen im höchsten
Grade befremden, und sie bestätigen dasjenige, was erst kürzlich in diesen Blättern
beklagt worden ist, daß die deutsche Rechtspflege zwar genügend gegen den


Der jüngste Berliner Skandalprozeß.

hat dem Gerichtsbeschluß seine volle Bedeutung entzogen. Für die Zeitungen exi-
stirt das Verbot der Öffentlichkeit nicht; sie brachten alles wortgetreu, soweit das
Preßgesetz und das Strafgesetzbuch eben gestatten, schamlose Dinge öffentlich zu
erörtern — und das ist weit. Denn schon versteht die keusche deutsche Sprache
nach französischem Muster auch die unglaublichsten Dinge so zu sagen, daß der
Verfasser durch die Maschen des Strafgesetzes schlüpft und trotzdem der Kitzel
der Menge angeregt wird.

Man fühlte es in den besseren Kreisen wie einen Schlag, als eines schönen
Abends die Blätter einen Gerichtsbericht brachten, der auch dem gereifteren
Manne die Note der Scham ins Gesicht trieb, und das alles war nicht bloß
in einem französischen Roman, sondern in einer deutsche» Zeitung zu lesen, die
der Frau wie den Kindern des Hauses offen liegt. Ein einziges Blatt hat in
Berlin den Prozeß gänzlich ignorirt, es war dies die „Germania," und wir
müssen mit Schmerz bekennen, daß das Jesnitenblatt diesmal die höchste Aner¬
kennung verdient; ihm am nächsten steht die „Kreuzzeitung," welche zwar Berichte
gab, aber doch in einer sehr diskreten Weise. Alle übrigen Zeitungen überboten
sich in der Genauigkeit der Referate, selbst Blätter, die sonst darauf halten,
daß sich in ihre Spalten kein unkeusches Wort verirrt. Dieselben befanden sich
aber durch jene Maßregel des Vorsitzenden in einer Zwangslage; nachdem die
Menge einmal lüstern gemacht worden war, wurden die Zeitungen, in denen
die Berichte genan standen, fehr begehrt. Der Quartalwechsel mit seiner
Abvnnemeiltslonkurrenz stand vor der Thür; die clirg, usogssitW macht oft die
besten Vorsätze zunichte, und so ergoß sich denn die Kloake aus dem Gerichts¬
gebäude, in welcher sie nach dem Gesetz hätte hermetisch verschlossen sein sollen,
in unzähligen Kanälen über die ganze Stadt und weiter über das Reich.

Aber es war dies nicht genug. Die Zeitungen zeigten bald mehr oder
weniger Teilnahme für den .Hauptangeklagten; sie ergriffen Partei für denselben,
färbten darnach ihre Berichte und knüpften Reflexionen an dieselben. Es war nur zu
natürlich, daß ein Einfluß auf die Zeugen und Geschworenen, beabsichtigt oder
nicht, eintreten mußte. Dem Vorsitzenden des Schwurgerichtes ging es wie dem
Goethischen Zauberlehrling, ihm wurde selbst bange vor den Folgen der von
ihm gewährten Erlaubnis; aber statt die Geister zu bannen und sie aus dem
Zuschauerraum zu vertreiben, glaubte er mit einer Zauberformel die Flut dämmen
zu können — einer Zauberformel, die besser ungesprochen geblieben wäre. Der
Vorsitzende rechtfertigte nämlich nach den Zeitungen die von ihm gewählte Maxime:
er habe der Presse den Zutritt gewährt, damit das Publikum einerseits die Schuld
des Hauptangeklagten nicht für schwerer erachte, als sie wirklich sei, und damit
es anderseits nicht etwa glaube, daß die Anklage frivol erhoben worden sei.

Diese Worte aus dem Munde eines Gerichtsvorsitzenden müssen im höchsten
Grade befremden, und sie bestätigen dasjenige, was erst kürzlich in diesen Blättern
beklagt worden ist, daß die deutsche Rechtspflege zwar genügend gegen den


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[0154] Der jüngste Berliner Skandalprozeß. hat dem Gerichtsbeschluß seine volle Bedeutung entzogen. Für die Zeitungen exi- stirt das Verbot der Öffentlichkeit nicht; sie brachten alles wortgetreu, soweit das Preßgesetz und das Strafgesetzbuch eben gestatten, schamlose Dinge öffentlich zu erörtern — und das ist weit. Denn schon versteht die keusche deutsche Sprache nach französischem Muster auch die unglaublichsten Dinge so zu sagen, daß der Verfasser durch die Maschen des Strafgesetzes schlüpft und trotzdem der Kitzel der Menge angeregt wird. Man fühlte es in den besseren Kreisen wie einen Schlag, als eines schönen Abends die Blätter einen Gerichtsbericht brachten, der auch dem gereifteren Manne die Note der Scham ins Gesicht trieb, und das alles war nicht bloß in einem französischen Roman, sondern in einer deutsche» Zeitung zu lesen, die der Frau wie den Kindern des Hauses offen liegt. Ein einziges Blatt hat in Berlin den Prozeß gänzlich ignorirt, es war dies die „Germania," und wir müssen mit Schmerz bekennen, daß das Jesnitenblatt diesmal die höchste Aner¬ kennung verdient; ihm am nächsten steht die „Kreuzzeitung," welche zwar Berichte gab, aber doch in einer sehr diskreten Weise. Alle übrigen Zeitungen überboten sich in der Genauigkeit der Referate, selbst Blätter, die sonst darauf halten, daß sich in ihre Spalten kein unkeusches Wort verirrt. Dieselben befanden sich aber durch jene Maßregel des Vorsitzenden in einer Zwangslage; nachdem die Menge einmal lüstern gemacht worden war, wurden die Zeitungen, in denen die Berichte genan standen, fehr begehrt. Der Quartalwechsel mit seiner Abvnnemeiltslonkurrenz stand vor der Thür; die clirg, usogssitW macht oft die besten Vorsätze zunichte, und so ergoß sich denn die Kloake aus dem Gerichts¬ gebäude, in welcher sie nach dem Gesetz hätte hermetisch verschlossen sein sollen, in unzähligen Kanälen über die ganze Stadt und weiter über das Reich. Aber es war dies nicht genug. Die Zeitungen zeigten bald mehr oder weniger Teilnahme für den .Hauptangeklagten; sie ergriffen Partei für denselben, färbten darnach ihre Berichte und knüpften Reflexionen an dieselben. Es war nur zu natürlich, daß ein Einfluß auf die Zeugen und Geschworenen, beabsichtigt oder nicht, eintreten mußte. Dem Vorsitzenden des Schwurgerichtes ging es wie dem Goethischen Zauberlehrling, ihm wurde selbst bange vor den Folgen der von ihm gewährten Erlaubnis; aber statt die Geister zu bannen und sie aus dem Zuschauerraum zu vertreiben, glaubte er mit einer Zauberformel die Flut dämmen zu können — einer Zauberformel, die besser ungesprochen geblieben wäre. Der Vorsitzende rechtfertigte nämlich nach den Zeitungen die von ihm gewählte Maxime: er habe der Presse den Zutritt gewährt, damit das Publikum einerseits die Schuld des Hauptangeklagten nicht für schwerer erachte, als sie wirklich sei, und damit es anderseits nicht etwa glaube, daß die Anklage frivol erhoben worden sei. Diese Worte aus dem Munde eines Gerichtsvorsitzenden müssen im höchsten Grade befremden, und sie bestätigen dasjenige, was erst kürzlich in diesen Blättern beklagt worden ist, daß die deutsche Rechtspflege zwar genügend gegen den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/154>, abgerufen am 15.01.2025.