Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die proportionale Berufsklassenwahl.

einen gemeinsamen Rechtsboden zu betreten, sobald ihnen die Geltendmachung
ihrer Wünsche und Beschwerden durch parlamentarische Vertretung gesichert ist.
Nicht alle unter ihnen sind gcscllschaftsfeiudliche Existenzen. Wer uns ein¬
wenden möchte, daß bei einer zukünftigen Berücksichtigung der Minderheiten
anch die sozialdemokratische Partei ihren entsprechenden Zuwachs erhalten würde,
den könnten wir daraus hinweisen, daß diese Partei bei der notwendig sich voll¬
ziehenden Spaltung und Umbildung in der heutigen Stärke nicht mehr bestehen
würde. Ein Teil derselben würde natürlich auch ferner seine utopistischen Ziele
verfolgen, und mit diesen Leuten wäre keine Verständigung möglich. Wir sind
aber überzeugt, daß sich die weniger radikalen Gruppen, sobald sie von dem
Terrorismus ihrer Führer und Verführer befreit wären, zu einer gemeinsamen
gesetzgeberischen Arbeit wohl heranziehen lassen würden, ohne sich deshalb not¬
wendigerweise mit den heutigen Anhängern einer extrem-liberalen Richtung zu
verschmelzen. Die meisten sozialistischen Abgeordneten würden zweifellos durch
Mandate der industriellen Bcrufsllasse in deu Reichstag gelangen. Das Fabrik¬
proletariat wird auch ferner das stärkste Kontingent für die sozialistischen
Arbeiterbataillone stellen. Aber die Trennung der landwirtschaftlichen von den
Industriearbeitern dürfte ebenso sicher zur Folge haben, daß der Sozialismus
in den ländlichen Distrikten und kleinen Landstädten seiner Anhängerschaft ver¬
lustig geht.

Die landwirtschaftliche Bernfsklasfe mit ihrer achtunggebietenden Ziffer von
173 Mandaten wird überhaupt in ihrer Geschlossenheit mehr, als dies bis jetzt
der Fall sein kann, ein Hort des konservativen Elements sein. In keinem
Stande ist die Gemeinsamkeit des Betriebsinteresfes so evident und so fühlbar,
kein andrer zeigt die gleiche, durch Seßhaftigkeit und lokale Gebundenheit ver¬
anlaßte Übereinstimmung der Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen. Hier
ist eine Ausbeutung der ländlichen Arbeiter dnrch die Brotherren, eine Herab-
drückung des Arbeitsentgeltes zu Hungerlöhnen, sowie das periodische Eintreten
verhängnisvoller Geschäftsstvckungen ungleich seltener und daher der Gegensatz
zwischen kleinen und großen Betrieben, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
nicht so scharf ausgeprägt wie in der industriellen Produktion. In der land¬
wirtschaftlichen Klasse würde sich die Belebung des berufsmäßigen ökonomischen
Gemeingeistes wesentlich steigern lassen durch die Einführung von Landwirtschafts¬
kammern, welche ähnlich wie die Handels- oder Gewerbekammern zu funktioniren
hätten. Die jetzt bestehenden lokalen landwirtschaftlichen Vereine genügen dieser
Aufgabe keineswegs. Sie ermangeln der Fühlung miteinander. Der engere
Anschluß an einen Verufsverband wird dahin führen, daß der kleine Grund¬
besitzer, der Bauer und Häusler sein Mißtrauen gegen die Inhaber von
Latifundienwirtschaften verliert. Im Bauernstande, bei dem die Familien¬
arbeit die Lohnarbeit ersetzt und dessen gesunder Individualismus einer
demokratischen Kollektivwirtschaft widerstrebt, liegen starke Widerlager zum


Die proportionale Berufsklassenwahl.

einen gemeinsamen Rechtsboden zu betreten, sobald ihnen die Geltendmachung
ihrer Wünsche und Beschwerden durch parlamentarische Vertretung gesichert ist.
Nicht alle unter ihnen sind gcscllschaftsfeiudliche Existenzen. Wer uns ein¬
wenden möchte, daß bei einer zukünftigen Berücksichtigung der Minderheiten
anch die sozialdemokratische Partei ihren entsprechenden Zuwachs erhalten würde,
den könnten wir daraus hinweisen, daß diese Partei bei der notwendig sich voll¬
ziehenden Spaltung und Umbildung in der heutigen Stärke nicht mehr bestehen
würde. Ein Teil derselben würde natürlich auch ferner seine utopistischen Ziele
verfolgen, und mit diesen Leuten wäre keine Verständigung möglich. Wir sind
aber überzeugt, daß sich die weniger radikalen Gruppen, sobald sie von dem
Terrorismus ihrer Führer und Verführer befreit wären, zu einer gemeinsamen
gesetzgeberischen Arbeit wohl heranziehen lassen würden, ohne sich deshalb not¬
wendigerweise mit den heutigen Anhängern einer extrem-liberalen Richtung zu
verschmelzen. Die meisten sozialistischen Abgeordneten würden zweifellos durch
Mandate der industriellen Bcrufsllasse in deu Reichstag gelangen. Das Fabrik¬
proletariat wird auch ferner das stärkste Kontingent für die sozialistischen
Arbeiterbataillone stellen. Aber die Trennung der landwirtschaftlichen von den
Industriearbeitern dürfte ebenso sicher zur Folge haben, daß der Sozialismus
in den ländlichen Distrikten und kleinen Landstädten seiner Anhängerschaft ver¬
lustig geht.

Die landwirtschaftliche Bernfsklasfe mit ihrer achtunggebietenden Ziffer von
173 Mandaten wird überhaupt in ihrer Geschlossenheit mehr, als dies bis jetzt
der Fall sein kann, ein Hort des konservativen Elements sein. In keinem
Stande ist die Gemeinsamkeit des Betriebsinteresfes so evident und so fühlbar,
kein andrer zeigt die gleiche, durch Seßhaftigkeit und lokale Gebundenheit ver¬
anlaßte Übereinstimmung der Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen. Hier
ist eine Ausbeutung der ländlichen Arbeiter dnrch die Brotherren, eine Herab-
drückung des Arbeitsentgeltes zu Hungerlöhnen, sowie das periodische Eintreten
verhängnisvoller Geschäftsstvckungen ungleich seltener und daher der Gegensatz
zwischen kleinen und großen Betrieben, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
nicht so scharf ausgeprägt wie in der industriellen Produktion. In der land¬
wirtschaftlichen Klasse würde sich die Belebung des berufsmäßigen ökonomischen
Gemeingeistes wesentlich steigern lassen durch die Einführung von Landwirtschafts¬
kammern, welche ähnlich wie die Handels- oder Gewerbekammern zu funktioniren
hätten. Die jetzt bestehenden lokalen landwirtschaftlichen Vereine genügen dieser
Aufgabe keineswegs. Sie ermangeln der Fühlung miteinander. Der engere
Anschluß an einen Verufsverband wird dahin führen, daß der kleine Grund¬
besitzer, der Bauer und Häusler sein Mißtrauen gegen die Inhaber von
Latifundienwirtschaften verliert. Im Bauernstande, bei dem die Familien¬
arbeit die Lohnarbeit ersetzt und dessen gesunder Individualismus einer
demokratischen Kollektivwirtschaft widerstrebt, liegen starke Widerlager zum


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196873"/>
            <fw type="header" place="top"> Die proportionale Berufsklassenwahl.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_391" prev="#ID_390"> einen gemeinsamen Rechtsboden zu betreten, sobald ihnen die Geltendmachung<lb/>
ihrer Wünsche und Beschwerden durch parlamentarische Vertretung gesichert ist.<lb/>
Nicht alle unter ihnen sind gcscllschaftsfeiudliche Existenzen. Wer uns ein¬<lb/>
wenden möchte, daß bei einer zukünftigen Berücksichtigung der Minderheiten<lb/>
anch die sozialdemokratische Partei ihren entsprechenden Zuwachs erhalten würde,<lb/>
den könnten wir daraus hinweisen, daß diese Partei bei der notwendig sich voll¬<lb/>
ziehenden Spaltung und Umbildung in der heutigen Stärke nicht mehr bestehen<lb/>
würde. Ein Teil derselben würde natürlich auch ferner seine utopistischen Ziele<lb/>
verfolgen, und mit diesen Leuten wäre keine Verständigung möglich. Wir sind<lb/>
aber überzeugt, daß sich die weniger radikalen Gruppen, sobald sie von dem<lb/>
Terrorismus ihrer Führer und Verführer befreit wären, zu einer gemeinsamen<lb/>
gesetzgeberischen Arbeit wohl heranziehen lassen würden, ohne sich deshalb not¬<lb/>
wendigerweise mit den heutigen Anhängern einer extrem-liberalen Richtung zu<lb/>
verschmelzen. Die meisten sozialistischen Abgeordneten würden zweifellos durch<lb/>
Mandate der industriellen Bcrufsllasse in deu Reichstag gelangen. Das Fabrik¬<lb/>
proletariat wird auch ferner das stärkste Kontingent für die sozialistischen<lb/>
Arbeiterbataillone stellen. Aber die Trennung der landwirtschaftlichen von den<lb/>
Industriearbeitern dürfte ebenso sicher zur Folge haben, daß der Sozialismus<lb/>
in den ländlichen Distrikten und kleinen Landstädten seiner Anhängerschaft ver¬<lb/>
lustig geht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_392" next="#ID_393"> Die landwirtschaftliche Bernfsklasfe mit ihrer achtunggebietenden Ziffer von<lb/>
173 Mandaten wird überhaupt in ihrer Geschlossenheit mehr, als dies bis jetzt<lb/>
der Fall sein kann, ein Hort des konservativen Elements sein. In keinem<lb/>
Stande ist die Gemeinsamkeit des Betriebsinteresfes so evident und so fühlbar,<lb/>
kein andrer zeigt die gleiche, durch Seßhaftigkeit und lokale Gebundenheit ver¬<lb/>
anlaßte Übereinstimmung der Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen. Hier<lb/>
ist eine Ausbeutung der ländlichen Arbeiter dnrch die Brotherren, eine Herab-<lb/>
drückung des Arbeitsentgeltes zu Hungerlöhnen, sowie das periodische Eintreten<lb/>
verhängnisvoller Geschäftsstvckungen ungleich seltener und daher der Gegensatz<lb/>
zwischen kleinen und großen Betrieben, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern<lb/>
nicht so scharf ausgeprägt wie in der industriellen Produktion. In der land¬<lb/>
wirtschaftlichen Klasse würde sich die Belebung des berufsmäßigen ökonomischen<lb/>
Gemeingeistes wesentlich steigern lassen durch die Einführung von Landwirtschafts¬<lb/>
kammern, welche ähnlich wie die Handels- oder Gewerbekammern zu funktioniren<lb/>
hätten. Die jetzt bestehenden lokalen landwirtschaftlichen Vereine genügen dieser<lb/>
Aufgabe keineswegs. Sie ermangeln der Fühlung miteinander. Der engere<lb/>
Anschluß an einen Verufsverband wird dahin führen, daß der kleine Grund¬<lb/>
besitzer, der Bauer und Häusler sein Mißtrauen gegen die Inhaber von<lb/>
Latifundienwirtschaften verliert. Im Bauernstande, bei dem die Familien¬<lb/>
arbeit die Lohnarbeit ersetzt und dessen gesunder Individualismus einer<lb/>
demokratischen Kollektivwirtschaft widerstrebt, liegen starke Widerlager zum</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0139] Die proportionale Berufsklassenwahl. einen gemeinsamen Rechtsboden zu betreten, sobald ihnen die Geltendmachung ihrer Wünsche und Beschwerden durch parlamentarische Vertretung gesichert ist. Nicht alle unter ihnen sind gcscllschaftsfeiudliche Existenzen. Wer uns ein¬ wenden möchte, daß bei einer zukünftigen Berücksichtigung der Minderheiten anch die sozialdemokratische Partei ihren entsprechenden Zuwachs erhalten würde, den könnten wir daraus hinweisen, daß diese Partei bei der notwendig sich voll¬ ziehenden Spaltung und Umbildung in der heutigen Stärke nicht mehr bestehen würde. Ein Teil derselben würde natürlich auch ferner seine utopistischen Ziele verfolgen, und mit diesen Leuten wäre keine Verständigung möglich. Wir sind aber überzeugt, daß sich die weniger radikalen Gruppen, sobald sie von dem Terrorismus ihrer Führer und Verführer befreit wären, zu einer gemeinsamen gesetzgeberischen Arbeit wohl heranziehen lassen würden, ohne sich deshalb not¬ wendigerweise mit den heutigen Anhängern einer extrem-liberalen Richtung zu verschmelzen. Die meisten sozialistischen Abgeordneten würden zweifellos durch Mandate der industriellen Bcrufsllasse in deu Reichstag gelangen. Das Fabrik¬ proletariat wird auch ferner das stärkste Kontingent für die sozialistischen Arbeiterbataillone stellen. Aber die Trennung der landwirtschaftlichen von den Industriearbeitern dürfte ebenso sicher zur Folge haben, daß der Sozialismus in den ländlichen Distrikten und kleinen Landstädten seiner Anhängerschaft ver¬ lustig geht. Die landwirtschaftliche Bernfsklasfe mit ihrer achtunggebietenden Ziffer von 173 Mandaten wird überhaupt in ihrer Geschlossenheit mehr, als dies bis jetzt der Fall sein kann, ein Hort des konservativen Elements sein. In keinem Stande ist die Gemeinsamkeit des Betriebsinteresfes so evident und so fühlbar, kein andrer zeigt die gleiche, durch Seßhaftigkeit und lokale Gebundenheit ver¬ anlaßte Übereinstimmung der Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen. Hier ist eine Ausbeutung der ländlichen Arbeiter dnrch die Brotherren, eine Herab- drückung des Arbeitsentgeltes zu Hungerlöhnen, sowie das periodische Eintreten verhängnisvoller Geschäftsstvckungen ungleich seltener und daher der Gegensatz zwischen kleinen und großen Betrieben, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern nicht so scharf ausgeprägt wie in der industriellen Produktion. In der land¬ wirtschaftlichen Klasse würde sich die Belebung des berufsmäßigen ökonomischen Gemeingeistes wesentlich steigern lassen durch die Einführung von Landwirtschafts¬ kammern, welche ähnlich wie die Handels- oder Gewerbekammern zu funktioniren hätten. Die jetzt bestehenden lokalen landwirtschaftlichen Vereine genügen dieser Aufgabe keineswegs. Sie ermangeln der Fühlung miteinander. Der engere Anschluß an einen Verufsverband wird dahin führen, daß der kleine Grund¬ besitzer, der Bauer und Häusler sein Mißtrauen gegen die Inhaber von Latifundienwirtschaften verliert. Im Bauernstande, bei dem die Familien¬ arbeit die Lohnarbeit ersetzt und dessen gesunder Individualismus einer demokratischen Kollektivwirtschaft widerstrebt, liegen starke Widerlager zum

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/139
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/139>, abgerufen am 15.01.2025.