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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Bernfsklnssenwahl.

gewährleisten. Würtemberg würde z. B. die ihm zufallenden siebzehn Reichstags^
sitze nur dann erhalten, wenn die Beteiligung seiner Wähler die gleiche wäre
wie in deu andern Reichsgebieten. Da aber jene Bestimmung des Artikel 20
nicht sowohl einen Grundsatz der Verfassung als vielmehr eine Ergänzung
des Wahlgesetzes darstellt, welches von der Verfassung selbst unabhängig
ist, so würde eine Streichung des Absatzes 2 leine Verfassungsänderung im
eigentlichen Sinne des Wortes darstellen. Ob der Artikel 29 mit seiner Be¬
stimmung, daß die Abgeordneten Vertreter des gesamten Volkes sein sollen,
bestehen bleibt oder wegfällt, ist, da diese Vorschrift schon heute den thatsächlichen
Verhältnissen nicht entspricht, ohne sachliche Bedeutung. Kvusequenterweise würde
derselbe allerdings mit dem Prinzip einer berufsstäudischeu Vertretung nicht
vereinbar sein und demnach entbehrlich werden.

Wir sind uns wohl bewußt, daß das neue Wahlverfahreu auch mancherlei
Anlaß zur Bemängelung darbietet. Während aber in der Anerkennung seiner
Vorzüge, namentlich der gerechteren Bewertung der Stimmen und der Unter¬
drückung des Wahlhumbugs, die Ordnuugsparteieu übereinstimmen dürften,
werden die Bedenken und Einwände, dem Parteistandpunkte der Beurteiler ent¬
sprechend, sehr verschiedenartig ausfallen. Den einen wird die Modifikation zu
geringfügig, den andern zu einschneidend erscheinen. Manchen wird die in der
Wiederbelebung des ständischen Prinzips liegende konservative Tendenz un¬
sympathisch sein, die Anhänger der letztern Richtung dagegen werden finden, daß
sie nicht scharf genug hervortrete. Der Autor räumt ein, daß ihm selbst das
Projekt in dieser Hinsicht keineswegs genügt und seine persönliche Neigung ihn
in der Betonung ständischer Formen weiter geführt haben würde, wenn nicht
die Rücksicht auf die Ausführbarkeit des Projekts abmahnend am Wege ge¬
standen hätte. Im gegenwärtigen Augenblicke würde eine Beeinträchtigung des
allgemeinen Stimmrechts nur unter heftiger Erschütterung des innern Friedens
möglich sein und Kämpfe heraufbeschwören, die herbeizuwünschen wir kein Inter¬
esse haben.

Immerhin vermag aber die Einführung einer berufsständischen Basis auch
in dieser abgeschtvächteren Gestaltung den Forderungen der Gegenwart zu ge¬
nügen, wenn sie sich als eine Verbesserung des bisherigen Vcrtretungsmodus
erweist. Denn sie enthält alle Ansätze zu einer spätern organischen Fortent¬
wicklung. Wir wollen nur darauf hindeuten, daß in der Zusammenfügung be¬
rufsständischer Korporationen alle Elemente zur weitern Gestaltung eines po¬
litisch-ökonomischen VcrcinslcbcnS vorhanden sind und daß die Führerschaft
innerhalb dieser Verbände im natürlichen Verlauf der Dinge denjenigen zufallen
muß, welche durch höhere Bildung, Vermögenslage, größern Umfang des Be¬
triebes oder hervorragende Fähigkeiten an der Spitze der Berufsgenossenschaften
stehen. Wenn sich einmal die Erkenntnis Bahn bricht, daß die politische Be¬
fähigung dieser Kreise diejenigen der minderbcgünstigten Volksschichten überragt,


Grenzboten IV. 188S. 17
Die proportionale Bernfsklnssenwahl.

gewährleisten. Würtemberg würde z. B. die ihm zufallenden siebzehn Reichstags^
sitze nur dann erhalten, wenn die Beteiligung seiner Wähler die gleiche wäre
wie in deu andern Reichsgebieten. Da aber jene Bestimmung des Artikel 20
nicht sowohl einen Grundsatz der Verfassung als vielmehr eine Ergänzung
des Wahlgesetzes darstellt, welches von der Verfassung selbst unabhängig
ist, so würde eine Streichung des Absatzes 2 leine Verfassungsänderung im
eigentlichen Sinne des Wortes darstellen. Ob der Artikel 29 mit seiner Be¬
stimmung, daß die Abgeordneten Vertreter des gesamten Volkes sein sollen,
bestehen bleibt oder wegfällt, ist, da diese Vorschrift schon heute den thatsächlichen
Verhältnissen nicht entspricht, ohne sachliche Bedeutung. Kvusequenterweise würde
derselbe allerdings mit dem Prinzip einer berufsstäudischeu Vertretung nicht
vereinbar sein und demnach entbehrlich werden.

Wir sind uns wohl bewußt, daß das neue Wahlverfahreu auch mancherlei
Anlaß zur Bemängelung darbietet. Während aber in der Anerkennung seiner
Vorzüge, namentlich der gerechteren Bewertung der Stimmen und der Unter¬
drückung des Wahlhumbugs, die Ordnuugsparteieu übereinstimmen dürften,
werden die Bedenken und Einwände, dem Parteistandpunkte der Beurteiler ent¬
sprechend, sehr verschiedenartig ausfallen. Den einen wird die Modifikation zu
geringfügig, den andern zu einschneidend erscheinen. Manchen wird die in der
Wiederbelebung des ständischen Prinzips liegende konservative Tendenz un¬
sympathisch sein, die Anhänger der letztern Richtung dagegen werden finden, daß
sie nicht scharf genug hervortrete. Der Autor räumt ein, daß ihm selbst das
Projekt in dieser Hinsicht keineswegs genügt und seine persönliche Neigung ihn
in der Betonung ständischer Formen weiter geführt haben würde, wenn nicht
die Rücksicht auf die Ausführbarkeit des Projekts abmahnend am Wege ge¬
standen hätte. Im gegenwärtigen Augenblicke würde eine Beeinträchtigung des
allgemeinen Stimmrechts nur unter heftiger Erschütterung des innern Friedens
möglich sein und Kämpfe heraufbeschwören, die herbeizuwünschen wir kein Inter¬
esse haben.

Immerhin vermag aber die Einführung einer berufsständischen Basis auch
in dieser abgeschtvächteren Gestaltung den Forderungen der Gegenwart zu ge¬
nügen, wenn sie sich als eine Verbesserung des bisherigen Vcrtretungsmodus
erweist. Denn sie enthält alle Ansätze zu einer spätern organischen Fortent¬
wicklung. Wir wollen nur darauf hindeuten, daß in der Zusammenfügung be¬
rufsständischer Korporationen alle Elemente zur weitern Gestaltung eines po¬
litisch-ökonomischen VcrcinslcbcnS vorhanden sind und daß die Führerschaft
innerhalb dieser Verbände im natürlichen Verlauf der Dinge denjenigen zufallen
muß, welche durch höhere Bildung, Vermögenslage, größern Umfang des Be¬
triebes oder hervorragende Fähigkeiten an der Spitze der Berufsgenossenschaften
stehen. Wenn sich einmal die Erkenntnis Bahn bricht, daß die politische Be¬
fähigung dieser Kreise diejenigen der minderbcgünstigten Volksschichten überragt,


Grenzboten IV. 188S. 17
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[0137] Die proportionale Bernfsklnssenwahl. gewährleisten. Würtemberg würde z. B. die ihm zufallenden siebzehn Reichstags^ sitze nur dann erhalten, wenn die Beteiligung seiner Wähler die gleiche wäre wie in deu andern Reichsgebieten. Da aber jene Bestimmung des Artikel 20 nicht sowohl einen Grundsatz der Verfassung als vielmehr eine Ergänzung des Wahlgesetzes darstellt, welches von der Verfassung selbst unabhängig ist, so würde eine Streichung des Absatzes 2 leine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinne des Wortes darstellen. Ob der Artikel 29 mit seiner Be¬ stimmung, daß die Abgeordneten Vertreter des gesamten Volkes sein sollen, bestehen bleibt oder wegfällt, ist, da diese Vorschrift schon heute den thatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht, ohne sachliche Bedeutung. Kvusequenterweise würde derselbe allerdings mit dem Prinzip einer berufsstäudischeu Vertretung nicht vereinbar sein und demnach entbehrlich werden. Wir sind uns wohl bewußt, daß das neue Wahlverfahreu auch mancherlei Anlaß zur Bemängelung darbietet. Während aber in der Anerkennung seiner Vorzüge, namentlich der gerechteren Bewertung der Stimmen und der Unter¬ drückung des Wahlhumbugs, die Ordnuugsparteieu übereinstimmen dürften, werden die Bedenken und Einwände, dem Parteistandpunkte der Beurteiler ent¬ sprechend, sehr verschiedenartig ausfallen. Den einen wird die Modifikation zu geringfügig, den andern zu einschneidend erscheinen. Manchen wird die in der Wiederbelebung des ständischen Prinzips liegende konservative Tendenz un¬ sympathisch sein, die Anhänger der letztern Richtung dagegen werden finden, daß sie nicht scharf genug hervortrete. Der Autor räumt ein, daß ihm selbst das Projekt in dieser Hinsicht keineswegs genügt und seine persönliche Neigung ihn in der Betonung ständischer Formen weiter geführt haben würde, wenn nicht die Rücksicht auf die Ausführbarkeit des Projekts abmahnend am Wege ge¬ standen hätte. Im gegenwärtigen Augenblicke würde eine Beeinträchtigung des allgemeinen Stimmrechts nur unter heftiger Erschütterung des innern Friedens möglich sein und Kämpfe heraufbeschwören, die herbeizuwünschen wir kein Inter¬ esse haben. Immerhin vermag aber die Einführung einer berufsständischen Basis auch in dieser abgeschtvächteren Gestaltung den Forderungen der Gegenwart zu ge¬ nügen, wenn sie sich als eine Verbesserung des bisherigen Vcrtretungsmodus erweist. Denn sie enthält alle Ansätze zu einer spätern organischen Fortent¬ wicklung. Wir wollen nur darauf hindeuten, daß in der Zusammenfügung be¬ rufsständischer Korporationen alle Elemente zur weitern Gestaltung eines po¬ litisch-ökonomischen VcrcinslcbcnS vorhanden sind und daß die Führerschaft innerhalb dieser Verbände im natürlichen Verlauf der Dinge denjenigen zufallen muß, welche durch höhere Bildung, Vermögenslage, größern Umfang des Be¬ triebes oder hervorragende Fähigkeiten an der Spitze der Berufsgenossenschaften stehen. Wenn sich einmal die Erkenntnis Bahn bricht, daß die politische Be¬ fähigung dieser Kreise diejenigen der minderbcgünstigten Volksschichten überragt, Grenzboten IV. 188S. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/137>, abgerufen am 15.01.2025.