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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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vor die Öffentlichkeit getreten. Es haben sich viclerorten Vereine gebildet zur
Verbreitung dieser Bestrebungen, und hervorragende Staatslehrer haben den
Gegenstand wissenschaftlich erörtert. Die praktischsten und für Deutschland am
besten passenden Vorschlüge enthält die im Jcihre 1859 erschienene Schrift von
Thomas Hare: Huz IÄee,ti<z,n ok ü,sML8vutÄt,lo"ZL, l'iU'lig.nrontÄr/ Ma Nuni-
oipÄ. Die darin aufgestellten Gesichtspunkte sind seitdem in einer von Gustav
Marxcn 1882 verfaßten und "Das deutsche Wahlsystem vom Standpunkte der
Verfassung" betitelten Schrift eingehend beleuchtet, kritisirt und zur Aufstellung
eines den deutschen Zuständen angepaßten Systems verarbeitet worden. Die¬
selben werden auch mit einigen Modifikationen der weiter unten folgenden Er¬
örterung zu gründe gelegt werden.

Alle bisher unternommenen Versuche, der Verhältniswahl Geltung zu
verschaffen, laufen auf das gemeinsame Ziel hinaus, die in dem Bestehen un-
vertretcner Minderheiten liegende Ungerechtigkeit möglichst zu beseitigen. Keiner
vermag diese Ausgabe völlig zu lösen. Daß bei einer Wahl die Häufigkeit
gleicher Voden einen Vorteil gewährt gegenüber denjenigen Gruppen, die für
ihre Anschauung nur eine geringe Anzahl Mitglieder anzuwerben vermochten,
liegt im Wesen jeder Wahl und Mandatscrteilung. Eine Vertretung aller
Meinnngsgruppen wäre nur ausführbar, wenn dieselben gleich stark wären oder
die Zahl der Sitze des zu wählenden Ausschusses beliebig so weit vermehrt
werden könnte, daß auch die kleinste Gruppe dort Vertretung fände. Die Not¬
wendigkeit, eine Versammlung räumlich zu beschränken, führt eben dazu, die
kleinen Minoritäten unberücksichtigt zu lassen. Je mehr sich die Wählerschaft in
zahlreiche kleine Verbände Gleichgesinnter spaltet, desto großer sind für den
Einzelnen die Chancen, Genossen seiner individuellen Richtung aufzufinden, desto
geringer aber wird die Aussicht, diese Nüance im Parlament vertreten zu
sehen. In ihrer extremsten Ausnutzung würde eine solche Spaltung dahin führen
können, daß keine einzige Fraktion die Minimalhöhe des Wahlquvtienten er¬
reichte und eine Bildung des Parlaments garnicht zustande käme. Allerdings
wirkt die Praxis der Wahlbündnisse und Fusionen einem solchen Mißerfolge
entgegen; aber wenn diese Praxis weiter oben als ein Mangel des gegen¬
wärtigen Wahlsystems gekennzeichnet wurde, so gebietet die Gerechtigkeit, diesen
Fehler auch bei der Proportionalitätswahl zu konstatiren. Die Verfechter des
letztern Systems gehen gern über diesen Punkt hinweg. Hare empfiehlt dasselbe
unter der Anpreisung, daß es, von einigen unschmiegsamen Gesellen abgesehen,
nicht einen stimmenden Wähler von der Vertretung ausschließe. Die Zahl
jener iinxriretioavlo tsmxvrs kann aber in einem menschlicherweise nicht voraus¬
zusehenden Umfange steigen, und sie muß es, je mehr Stimmen durch Entstehen
kleiner politischer Krystallisatiouszentren im Wahlgänge zersplittern.

Immerhin bietet das Harcsche System außerordentliche Vorzüge im Ver¬
gleich zu unserm bisher geltenden Wahlmodus. Denn wenn es den Mangel


vor die Öffentlichkeit getreten. Es haben sich viclerorten Vereine gebildet zur
Verbreitung dieser Bestrebungen, und hervorragende Staatslehrer haben den
Gegenstand wissenschaftlich erörtert. Die praktischsten und für Deutschland am
besten passenden Vorschlüge enthält die im Jcihre 1859 erschienene Schrift von
Thomas Hare: Huz IÄee,ti<z,n ok ü,sML8vutÄt,lo«ZL, l'iU'lig.nrontÄr/ Ma Nuni-
oipÄ. Die darin aufgestellten Gesichtspunkte sind seitdem in einer von Gustav
Marxcn 1882 verfaßten und „Das deutsche Wahlsystem vom Standpunkte der
Verfassung" betitelten Schrift eingehend beleuchtet, kritisirt und zur Aufstellung
eines den deutschen Zuständen angepaßten Systems verarbeitet worden. Die¬
selben werden auch mit einigen Modifikationen der weiter unten folgenden Er¬
örterung zu gründe gelegt werden.

Alle bisher unternommenen Versuche, der Verhältniswahl Geltung zu
verschaffen, laufen auf das gemeinsame Ziel hinaus, die in dem Bestehen un-
vertretcner Minderheiten liegende Ungerechtigkeit möglichst zu beseitigen. Keiner
vermag diese Ausgabe völlig zu lösen. Daß bei einer Wahl die Häufigkeit
gleicher Voden einen Vorteil gewährt gegenüber denjenigen Gruppen, die für
ihre Anschauung nur eine geringe Anzahl Mitglieder anzuwerben vermochten,
liegt im Wesen jeder Wahl und Mandatscrteilung. Eine Vertretung aller
Meinnngsgruppen wäre nur ausführbar, wenn dieselben gleich stark wären oder
die Zahl der Sitze des zu wählenden Ausschusses beliebig so weit vermehrt
werden könnte, daß auch die kleinste Gruppe dort Vertretung fände. Die Not¬
wendigkeit, eine Versammlung räumlich zu beschränken, führt eben dazu, die
kleinen Minoritäten unberücksichtigt zu lassen. Je mehr sich die Wählerschaft in
zahlreiche kleine Verbände Gleichgesinnter spaltet, desto großer sind für den
Einzelnen die Chancen, Genossen seiner individuellen Richtung aufzufinden, desto
geringer aber wird die Aussicht, diese Nüance im Parlament vertreten zu
sehen. In ihrer extremsten Ausnutzung würde eine solche Spaltung dahin führen
können, daß keine einzige Fraktion die Minimalhöhe des Wahlquvtienten er¬
reichte und eine Bildung des Parlaments garnicht zustande käme. Allerdings
wirkt die Praxis der Wahlbündnisse und Fusionen einem solchen Mißerfolge
entgegen; aber wenn diese Praxis weiter oben als ein Mangel des gegen¬
wärtigen Wahlsystems gekennzeichnet wurde, so gebietet die Gerechtigkeit, diesen
Fehler auch bei der Proportionalitätswahl zu konstatiren. Die Verfechter des
letztern Systems gehen gern über diesen Punkt hinweg. Hare empfiehlt dasselbe
unter der Anpreisung, daß es, von einigen unschmiegsamen Gesellen abgesehen,
nicht einen stimmenden Wähler von der Vertretung ausschließe. Die Zahl
jener iinxriretioavlo tsmxvrs kann aber in einem menschlicherweise nicht voraus¬
zusehenden Umfange steigen, und sie muß es, je mehr Stimmen durch Entstehen
kleiner politischer Krystallisatiouszentren im Wahlgänge zersplittern.

Immerhin bietet das Harcsche System außerordentliche Vorzüge im Ver¬
gleich zu unserm bisher geltenden Wahlmodus. Denn wenn es den Mangel


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[0122] vor die Öffentlichkeit getreten. Es haben sich viclerorten Vereine gebildet zur Verbreitung dieser Bestrebungen, und hervorragende Staatslehrer haben den Gegenstand wissenschaftlich erörtert. Die praktischsten und für Deutschland am besten passenden Vorschlüge enthält die im Jcihre 1859 erschienene Schrift von Thomas Hare: Huz IÄee,ti<z,n ok ü,sML8vutÄt,lo«ZL, l'iU'lig.nrontÄr/ Ma Nuni- oipÄ. Die darin aufgestellten Gesichtspunkte sind seitdem in einer von Gustav Marxcn 1882 verfaßten und „Das deutsche Wahlsystem vom Standpunkte der Verfassung" betitelten Schrift eingehend beleuchtet, kritisirt und zur Aufstellung eines den deutschen Zuständen angepaßten Systems verarbeitet worden. Die¬ selben werden auch mit einigen Modifikationen der weiter unten folgenden Er¬ örterung zu gründe gelegt werden. Alle bisher unternommenen Versuche, der Verhältniswahl Geltung zu verschaffen, laufen auf das gemeinsame Ziel hinaus, die in dem Bestehen un- vertretcner Minderheiten liegende Ungerechtigkeit möglichst zu beseitigen. Keiner vermag diese Ausgabe völlig zu lösen. Daß bei einer Wahl die Häufigkeit gleicher Voden einen Vorteil gewährt gegenüber denjenigen Gruppen, die für ihre Anschauung nur eine geringe Anzahl Mitglieder anzuwerben vermochten, liegt im Wesen jeder Wahl und Mandatscrteilung. Eine Vertretung aller Meinnngsgruppen wäre nur ausführbar, wenn dieselben gleich stark wären oder die Zahl der Sitze des zu wählenden Ausschusses beliebig so weit vermehrt werden könnte, daß auch die kleinste Gruppe dort Vertretung fände. Die Not¬ wendigkeit, eine Versammlung räumlich zu beschränken, führt eben dazu, die kleinen Minoritäten unberücksichtigt zu lassen. Je mehr sich die Wählerschaft in zahlreiche kleine Verbände Gleichgesinnter spaltet, desto großer sind für den Einzelnen die Chancen, Genossen seiner individuellen Richtung aufzufinden, desto geringer aber wird die Aussicht, diese Nüance im Parlament vertreten zu sehen. In ihrer extremsten Ausnutzung würde eine solche Spaltung dahin führen können, daß keine einzige Fraktion die Minimalhöhe des Wahlquvtienten er¬ reichte und eine Bildung des Parlaments garnicht zustande käme. Allerdings wirkt die Praxis der Wahlbündnisse und Fusionen einem solchen Mißerfolge entgegen; aber wenn diese Praxis weiter oben als ein Mangel des gegen¬ wärtigen Wahlsystems gekennzeichnet wurde, so gebietet die Gerechtigkeit, diesen Fehler auch bei der Proportionalitätswahl zu konstatiren. Die Verfechter des letztern Systems gehen gern über diesen Punkt hinweg. Hare empfiehlt dasselbe unter der Anpreisung, daß es, von einigen unschmiegsamen Gesellen abgesehen, nicht einen stimmenden Wähler von der Vertretung ausschließe. Die Zahl jener iinxriretioavlo tsmxvrs kann aber in einem menschlicherweise nicht voraus¬ zusehenden Umfange steigen, und sie muß es, je mehr Stimmen durch Entstehen kleiner politischer Krystallisatiouszentren im Wahlgänge zersplittern. Immerhin bietet das Harcsche System außerordentliche Vorzüge im Ver¬ gleich zu unserm bisher geltenden Wahlmodus. Denn wenn es den Mangel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/122>, abgerufen am 15.01.2025.