Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. Von zartem Wuchs, blauen, sinnigen Augen und goldblonden Haar -- eine Am 15. Oktober 1880 begann das Schuljahr, und mit einem Schlage än¬ Auf dem Stilfser Joch. Von zartem Wuchs, blauen, sinnigen Augen und goldblonden Haar — eine Am 15. Oktober 1880 begann das Schuljahr, und mit einem Schlage än¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196850"/> <fw type="header" place="top"> Auf dem Stilfser Joch.</fw><lb/> <p xml:id="ID_309" prev="#ID_308"> Von zartem Wuchs, blauen, sinnigen Augen und goldblonden Haar — eine<lb/> kaum im Erwachen begriffne Rosenknospe oder eine jugendliche Elfe, wie sie<lb/> die nordischen Sagen als Gespielen der Königskinder unsrer Phantasie vor¬<lb/> gaukeln. Für sie war Harald ein Wesen höherer Art, das sie nur mit Andacht<lb/> betrachtete; sie war glücklich, wenn der Bruder bei seiner Arbeit im Atelier sie um<lb/> sich duldete, und wenn er zuweilen an sie herantrat und seine Lippen ihre Stirn<lb/> berührten. Tante Atome aber wirtschaftete den ganzen Tag herum, von einer<lb/> Stube in die andre und in die Küche, immer mit dem Staubtuche in der Hand<lb/> oder am Herde, bald einen Gegenstand abputzend, bald ihn zurechtrückend, immer<lb/> geschäftig, nie müßig; denn auch wenn sie sich niedersetzte, wurde sogleich zum<lb/> Strickstrumpf oder zum Nähzeug gegriffen. Aber ihr Thun war geräuschlos,<lb/> die Arbeit Haralds und die Studien der Kinder waren ihr etwas Heiliges.<lb/> Haralds Atelier war stets in Ordnung; noch ehe er sich am Morgen an<lb/> die Arbeit begab, hatte ihre sorgende Hand alles selbst gesäubert und zurecht¬<lb/> gelegt, am Tage aber wagte sie es nicht, auch nur einen Blick hineinzuwerfen<lb/> oder durch indiskrete Neugier den Künstler zu stören. Das waren glückliche<lb/> Tage, diese ersten eines neuen Zusammenseins, und Harald war selbst davon<lb/> überrascht; er hatte nicht geglaubt, daß er nach dem regellosen Leben, das<lb/> er so lange geführt, sich so schnell und so gern in einer Familienordnung zu-<lb/> rechtfinden würde; er hatte nicht gehofft, daß er aus dem Verkehr mit den so viel<lb/> jüngern Geschwistern Anregung und Frohsinn würde schöpfen können. Visher<lb/> hatte ihn die Sorge um die Zukunft, die Hetzjagd nach Bekanntschaften und<lb/> Gönnern in jedem künstlerischen Gedanken gestört, eine geistige Leere hatte ihn<lb/> bedrückt und ließ keine Idee in ihm aufkommen. Jetzt war schon nach den ersten<lb/> Tagen dieses neuen Lebens der künstlerische Quell in ihm zu neuem Sprudeln<lb/> gediehen; bereits hatte er den ersten Riß zu einem großen Bilde entworfen, mit<lb/> dem er sich bei der Ausstellung im nächsten Herbste als voller Meister in die<lb/> Künstlerwelt der Residenz einführen wollte. Er plante die Darstellung eiuer<lb/> großen Volksversammlung, wie er sie oft in dem regen Partcitreiben der Stadt<lb/> besucht hatte; sein Talent für das größere Genre, seine bei Durand ge¬<lb/> machten Porträtstudien, die verschiednen Lichteffekte, die er noch bei seinem<lb/> letzten Aufenthalte in Holland an den Nembrandtschen Meisterwerken studirt<lb/> hatte, sollten hierbei zu voller Geltung kommeu, und der Gedanke, daß er<lb/> jetzt für teure Personen zu sorgen hatte, drückte ihn uicht mehr nieder, sondern<lb/> gab ihm den Mut und die Hoffnung, daß die Anerkennung ihm auch den Weg<lb/> zu lohnendem Erwerbe öffnen würde.</p><lb/> <p xml:id="ID_310" next="#ID_311"> Am 15. Oktober 1880 begann das Schuljahr, und mit einem Schlage än¬<lb/> derte sich, wie in dem Zaubermärcheu, die ganze Szenerie. Die Kinder ver¬<lb/> ließen schon um halb acht Uhr das Haus, um ihre von der Wohnung weit<lb/> entfernt liegenden Schulen rechtzeitig zu erreichen. Die dunkeln Morgenstunden<lb/> verstatteten Harald nicht zu arbeiten, und wenn es hell geworden war, mußte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0116]
Auf dem Stilfser Joch.
Von zartem Wuchs, blauen, sinnigen Augen und goldblonden Haar — eine
kaum im Erwachen begriffne Rosenknospe oder eine jugendliche Elfe, wie sie
die nordischen Sagen als Gespielen der Königskinder unsrer Phantasie vor¬
gaukeln. Für sie war Harald ein Wesen höherer Art, das sie nur mit Andacht
betrachtete; sie war glücklich, wenn der Bruder bei seiner Arbeit im Atelier sie um
sich duldete, und wenn er zuweilen an sie herantrat und seine Lippen ihre Stirn
berührten. Tante Atome aber wirtschaftete den ganzen Tag herum, von einer
Stube in die andre und in die Küche, immer mit dem Staubtuche in der Hand
oder am Herde, bald einen Gegenstand abputzend, bald ihn zurechtrückend, immer
geschäftig, nie müßig; denn auch wenn sie sich niedersetzte, wurde sogleich zum
Strickstrumpf oder zum Nähzeug gegriffen. Aber ihr Thun war geräuschlos,
die Arbeit Haralds und die Studien der Kinder waren ihr etwas Heiliges.
Haralds Atelier war stets in Ordnung; noch ehe er sich am Morgen an
die Arbeit begab, hatte ihre sorgende Hand alles selbst gesäubert und zurecht¬
gelegt, am Tage aber wagte sie es nicht, auch nur einen Blick hineinzuwerfen
oder durch indiskrete Neugier den Künstler zu stören. Das waren glückliche
Tage, diese ersten eines neuen Zusammenseins, und Harald war selbst davon
überrascht; er hatte nicht geglaubt, daß er nach dem regellosen Leben, das
er so lange geführt, sich so schnell und so gern in einer Familienordnung zu-
rechtfinden würde; er hatte nicht gehofft, daß er aus dem Verkehr mit den so viel
jüngern Geschwistern Anregung und Frohsinn würde schöpfen können. Visher
hatte ihn die Sorge um die Zukunft, die Hetzjagd nach Bekanntschaften und
Gönnern in jedem künstlerischen Gedanken gestört, eine geistige Leere hatte ihn
bedrückt und ließ keine Idee in ihm aufkommen. Jetzt war schon nach den ersten
Tagen dieses neuen Lebens der künstlerische Quell in ihm zu neuem Sprudeln
gediehen; bereits hatte er den ersten Riß zu einem großen Bilde entworfen, mit
dem er sich bei der Ausstellung im nächsten Herbste als voller Meister in die
Künstlerwelt der Residenz einführen wollte. Er plante die Darstellung eiuer
großen Volksversammlung, wie er sie oft in dem regen Partcitreiben der Stadt
besucht hatte; sein Talent für das größere Genre, seine bei Durand ge¬
machten Porträtstudien, die verschiednen Lichteffekte, die er noch bei seinem
letzten Aufenthalte in Holland an den Nembrandtschen Meisterwerken studirt
hatte, sollten hierbei zu voller Geltung kommeu, und der Gedanke, daß er
jetzt für teure Personen zu sorgen hatte, drückte ihn uicht mehr nieder, sondern
gab ihm den Mut und die Hoffnung, daß die Anerkennung ihm auch den Weg
zu lohnendem Erwerbe öffnen würde.
Am 15. Oktober 1880 begann das Schuljahr, und mit einem Schlage än¬
derte sich, wie in dem Zaubermärcheu, die ganze Szenerie. Die Kinder ver¬
ließen schon um halb acht Uhr das Haus, um ihre von der Wohnung weit
entfernt liegenden Schulen rechtzeitig zu erreichen. Die dunkeln Morgenstunden
verstatteten Harald nicht zu arbeiten, und wenn es hell geworden war, mußte
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