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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Gin Grundproblem des Annstgewerbes,

gewählt, wenn es nicht dem eigentlichen Charakter unsrer Zeit entspränge, in
welcher an die Stelle des unmittelbaren, ans dem Gefühle quellenden Schaffens
das aus der Erkenntnis seiner Gründe wirkende Schaffen getreten ist. Wir
brauchen aber auch nicht zu fürchten, daß das Mittel ein falsch gewähltes sei:
die von den gelehrten Kreisen ausgehende literarische Bewegung des vorigen Jahr¬
hunderts mit dem sich daran schließenden großartigen Aufschwünge unsrer Dich¬
tung hat bewiesen, daß es sehr gut möglich ist, erst durch die Leuchte der
Wissenschaft der Kunst den richtigen Weg zu zeigen und, falls die Talente nicht
fehlen, dann auf diesem das Große zu gestalten. Nur muß eben dieser richtige
Weg gefunden werden, nur müssen die Gründe richtig erkannt werden, auf
welchen die künstlerische Gestaltung des Handwerks beruht, nur muß nachgewiesen
werden, wie eine solche sich zu den eigensten Anforderungen unsrer Zeit an die
Leistungen des Handwerks stellt.

Nennen wir Handwerksthätigkeit diejenige Thätigkeit, welche einen Stoff
so umgestaltet, daß er für den erstrebten Gebrauch möglichst geeignet wird,
so kommt das künstlerische Element dann hinzu, wenn er in seiner Gestal¬
tung ein Mehr enthält, welches über das ihn zum bestmöglichen Gebrauche
befähigende noch hinausgeht und für diesen Gebrauch nicht unbedingt notwendig ist.
Wird ein Baumstamm als Träger benutzt und zu diesem Zwecke als Balken be¬
arbeitet, so ist dies Sache des Handwerks; wird die zur Aufnahme der Last
notwendige Erweiterung an der Auflagerungsftelle statt durch schräge Stützen
vielmehr durch Umgestaltung des erweiterten obern Teils zu einem Blattkranz
erreicht, so ist ein künstlerisches Element hinzugetreten. Dies aber darf, wenn
es wirklich künstlerisch wirken soll, zweier Eigenschaften nicht entbehren, die, wie
es scheint, in unsrer Zeit nicht immer scharf genug erkannt und daher auch nicht
immer richtig angewendet werden.

Die erste und Nächstliegende ist die des bildlichen Charakters. An einer
Stelle, wo ein wirkliches Blatt weder vorhanden ist noch vorhanden sein kann,
wird durch Nachbildung die Vorstellung eines Blattes hervorgerufen, und zwar
dadurch, daß ein Stoff, der selbst nie zur Gestaltung einer Blattform gekommen
wäre, sich der einem fremden Stoffe entlehnten Form unterworfen und ange¬
paßt hat. Während also die Form geblieben ist, hat ein Stoffwechsel stattge¬
funden. Dieser Stoffwechsel ist nicht nur für alle bildlichen Formen das Cha¬
rakteristische, er ist sogar das eigentlich Schöpferische, ohne welches eine bildliche
Form überhaupt nie entstanden wäre. Und zwar ist dies so zu verstehen, daß
der Urquell der künstlerischen Form in dem thatsächlich erfolgten Wechsel, in
der Bertcmschung des einen Stoffes mit dem andern zu suchen ist. Wollte man
uun hieraus schließen, daß es zur Herstellung einer künstlerischen Schöpfung
genüge, unter Anwendung dieses Grundsatzes des Stoffwechsels ein bildliches
Element anzubringen, so wäre damit allerdings die sachliche Grundlage für die
Kunstschöpfung gegeben; ob sie felbst aber erreicht wäre, hinge noch von einem'


Grenzboten III.183S. 9
Gin Grundproblem des Annstgewerbes,

gewählt, wenn es nicht dem eigentlichen Charakter unsrer Zeit entspränge, in
welcher an die Stelle des unmittelbaren, ans dem Gefühle quellenden Schaffens
das aus der Erkenntnis seiner Gründe wirkende Schaffen getreten ist. Wir
brauchen aber auch nicht zu fürchten, daß das Mittel ein falsch gewähltes sei:
die von den gelehrten Kreisen ausgehende literarische Bewegung des vorigen Jahr¬
hunderts mit dem sich daran schließenden großartigen Aufschwünge unsrer Dich¬
tung hat bewiesen, daß es sehr gut möglich ist, erst durch die Leuchte der
Wissenschaft der Kunst den richtigen Weg zu zeigen und, falls die Talente nicht
fehlen, dann auf diesem das Große zu gestalten. Nur muß eben dieser richtige
Weg gefunden werden, nur müssen die Gründe richtig erkannt werden, auf
welchen die künstlerische Gestaltung des Handwerks beruht, nur muß nachgewiesen
werden, wie eine solche sich zu den eigensten Anforderungen unsrer Zeit an die
Leistungen des Handwerks stellt.

Nennen wir Handwerksthätigkeit diejenige Thätigkeit, welche einen Stoff
so umgestaltet, daß er für den erstrebten Gebrauch möglichst geeignet wird,
so kommt das künstlerische Element dann hinzu, wenn er in seiner Gestal¬
tung ein Mehr enthält, welches über das ihn zum bestmöglichen Gebrauche
befähigende noch hinausgeht und für diesen Gebrauch nicht unbedingt notwendig ist.
Wird ein Baumstamm als Träger benutzt und zu diesem Zwecke als Balken be¬
arbeitet, so ist dies Sache des Handwerks; wird die zur Aufnahme der Last
notwendige Erweiterung an der Auflagerungsftelle statt durch schräge Stützen
vielmehr durch Umgestaltung des erweiterten obern Teils zu einem Blattkranz
erreicht, so ist ein künstlerisches Element hinzugetreten. Dies aber darf, wenn
es wirklich künstlerisch wirken soll, zweier Eigenschaften nicht entbehren, die, wie
es scheint, in unsrer Zeit nicht immer scharf genug erkannt und daher auch nicht
immer richtig angewendet werden.

Die erste und Nächstliegende ist die des bildlichen Charakters. An einer
Stelle, wo ein wirkliches Blatt weder vorhanden ist noch vorhanden sein kann,
wird durch Nachbildung die Vorstellung eines Blattes hervorgerufen, und zwar
dadurch, daß ein Stoff, der selbst nie zur Gestaltung einer Blattform gekommen
wäre, sich der einem fremden Stoffe entlehnten Form unterworfen und ange¬
paßt hat. Während also die Form geblieben ist, hat ein Stoffwechsel stattge¬
funden. Dieser Stoffwechsel ist nicht nur für alle bildlichen Formen das Cha¬
rakteristische, er ist sogar das eigentlich Schöpferische, ohne welches eine bildliche
Form überhaupt nie entstanden wäre. Und zwar ist dies so zu verstehen, daß
der Urquell der künstlerischen Form in dem thatsächlich erfolgten Wechsel, in
der Bertcmschung des einen Stoffes mit dem andern zu suchen ist. Wollte man
uun hieraus schließen, daß es zur Herstellung einer künstlerischen Schöpfung
genüge, unter Anwendung dieses Grundsatzes des Stoffwechsels ein bildliches
Element anzubringen, so wäre damit allerdings die sachliche Grundlage für die
Kunstschöpfung gegeben; ob sie felbst aber erreicht wäre, hinge noch von einem'


Grenzboten III.183S. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/73>, abgerufen am 25.11.2024.