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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Notstand des Privcitkcipitals.

der Aufwendung der Staaten zu diesem Zwecke. Jedenfalls würden diese
Summen genügen, um der Staatswirtschaft neue Bahnen zu erschließe", viel¬
leicht eine Ära von Kanalbanten zu eröffnen, welche der Periode, der wir unser
Eisenbahnnetz verdanken, an Größe und befruchtender Wirkung nicht nachstehen
würde.

Man wird einwenden, daß die Tilgungspflicht weitaus zum größten Teil
auf Gesetz oder Vertrag beruhe, also nicht ohne Gewaltakt und Treubruch
beseitigt werden könne. Allein da die Gläubiger keinen Wert auf die Tilgung
legen, dieselbe im Gegenteil als eine Unbequemlichkeit empfinden, so würde sich
ein Ausweg leicht finden lassen. Man brauchte ja nur an die Wahl der Obli-
gationsinhaber zu appelliren; es würde sich ergeben, daß nur sehr wenige auf
der Amortisation bestünden, und diese wenigen könnte man entweder durch Rück¬
zahlung oder durch die Kreirung eines besondern mnortisirbaren Urlebens zu¬
friedenstellen. Lsiiolioig. non odtruäuuwr.

Wenn das deutsche Reich bestrebt ist, der Industrie neue Absatzwege zu
eröffnen, so mag es zwar zunächst eine Befruchtung der Arbeit im Auge haben,
mittelbar aber sorgt eine solche Politik ebenso für das Kapital. Denn wenn
die Produktion zunimmt, so beschäftigt sie nicht mir mehr Arbeiter, sondern
auch mehr Kapital; es müßte also sowohl der Arbeitslohn als der Zinsfuß
steigen oder doch vor einem weiteren Sinken bewahrt bleiben. Um aber eine
solche Wirkung zu üben, müßte unser Export Verhältnisse annehmen, die wir
vernünftigerweise uicht in sehr naher Zeit erwarten dürfen.*)

Wenn aber Deutschland aufhörte, jährlich 80 bis 100 Millionen auf den
Kapitalmarkt zu werfen, und vermittelst derselben eine großartige Politik frucht¬
barer Kulturanlagen eröffnete, so würde die Wirkung auf Arbeit und Kapital
nicht ausbleiben. Das von der unnatürlichen Konkurrenz der Amortisationen
befreite Kapital würde sich entwöhnen, nur noch in festen Renten Anlage zu
suchen, es würde den Mut wieder gewinnen, sich im großen bei industriellen
Unternehmungen zu beteiligen, und reges Leben könnte einkehren, wo jetzt Ver¬
sumpfung herrscht. Ein bemerkenswerter Aufsatz über das Sinken der Preise,
welchen jüngst die "Zeitschrift für Stahl und Eisen" brachte, hat ähnliche Ge¬
danken ausgesprochen und, freilich nur sehr schüchtern, für eine Periode um-



*) Der französische Exminister Jules Ferry hat freilich andre Ansichten von einer Ko-
lonialpolitik. Er sagte am 28. Juli d, I.: "Der Erwerb von Kolonien ist ein Gewinn, auch
wenn dieselben nicht als eine Ableitung des Bevvlkeruugsiiberschnsses dienen. Die Kapitalien
die man aus ihnen zieht, stärken das Mutterland; denn um die einheimische Arbeit zu ver¬
werten, sind große Kapitalien nötig." Als ob Frankreich Mangel an Kapital hätte, und als
ob Toniin und Aram Kapitalien liefern könnten! Freilich sind solche Reden nicht crust zu
nehmen, sie haben zunächst uur taktische Zwecke, und es ist anzunehmen, daß Herr Ferry
mehr von Nationalökonomie versteht, als aus dieser Rede ersichtlich ist, obgleich dieselbe einen
sensationellen Erfolg hatte.
Der Notstand des Privcitkcipitals.

der Aufwendung der Staaten zu diesem Zwecke. Jedenfalls würden diese
Summen genügen, um der Staatswirtschaft neue Bahnen zu erschließe», viel¬
leicht eine Ära von Kanalbanten zu eröffnen, welche der Periode, der wir unser
Eisenbahnnetz verdanken, an Größe und befruchtender Wirkung nicht nachstehen
würde.

Man wird einwenden, daß die Tilgungspflicht weitaus zum größten Teil
auf Gesetz oder Vertrag beruhe, also nicht ohne Gewaltakt und Treubruch
beseitigt werden könne. Allein da die Gläubiger keinen Wert auf die Tilgung
legen, dieselbe im Gegenteil als eine Unbequemlichkeit empfinden, so würde sich
ein Ausweg leicht finden lassen. Man brauchte ja nur an die Wahl der Obli-
gationsinhaber zu appelliren; es würde sich ergeben, daß nur sehr wenige auf
der Amortisation bestünden, und diese wenigen könnte man entweder durch Rück¬
zahlung oder durch die Kreirung eines besondern mnortisirbaren Urlebens zu¬
friedenstellen. Lsiiolioig. non odtruäuuwr.

Wenn das deutsche Reich bestrebt ist, der Industrie neue Absatzwege zu
eröffnen, so mag es zwar zunächst eine Befruchtung der Arbeit im Auge haben,
mittelbar aber sorgt eine solche Politik ebenso für das Kapital. Denn wenn
die Produktion zunimmt, so beschäftigt sie nicht mir mehr Arbeiter, sondern
auch mehr Kapital; es müßte also sowohl der Arbeitslohn als der Zinsfuß
steigen oder doch vor einem weiteren Sinken bewahrt bleiben. Um aber eine
solche Wirkung zu üben, müßte unser Export Verhältnisse annehmen, die wir
vernünftigerweise uicht in sehr naher Zeit erwarten dürfen.*)

Wenn aber Deutschland aufhörte, jährlich 80 bis 100 Millionen auf den
Kapitalmarkt zu werfen, und vermittelst derselben eine großartige Politik frucht¬
barer Kulturanlagen eröffnete, so würde die Wirkung auf Arbeit und Kapital
nicht ausbleiben. Das von der unnatürlichen Konkurrenz der Amortisationen
befreite Kapital würde sich entwöhnen, nur noch in festen Renten Anlage zu
suchen, es würde den Mut wieder gewinnen, sich im großen bei industriellen
Unternehmungen zu beteiligen, und reges Leben könnte einkehren, wo jetzt Ver¬
sumpfung herrscht. Ein bemerkenswerter Aufsatz über das Sinken der Preise,
welchen jüngst die „Zeitschrift für Stahl und Eisen" brachte, hat ähnliche Ge¬
danken ausgesprochen und, freilich nur sehr schüchtern, für eine Periode um-



*) Der französische Exminister Jules Ferry hat freilich andre Ansichten von einer Ko-
lonialpolitik. Er sagte am 28. Juli d, I.: „Der Erwerb von Kolonien ist ein Gewinn, auch
wenn dieselben nicht als eine Ableitung des Bevvlkeruugsiiberschnsses dienen. Die Kapitalien
die man aus ihnen zieht, stärken das Mutterland; denn um die einheimische Arbeit zu ver¬
werten, sind große Kapitalien nötig." Als ob Frankreich Mangel an Kapital hätte, und als
ob Toniin und Aram Kapitalien liefern könnten! Freilich sind solche Reden nicht crust zu
nehmen, sie haben zunächst uur taktische Zwecke, und es ist anzunehmen, daß Herr Ferry
mehr von Nationalökonomie versteht, als aus dieser Rede ersichtlich ist, obgleich dieselbe einen
sensationellen Erfolg hatte.
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[0607] Der Notstand des Privcitkcipitals. der Aufwendung der Staaten zu diesem Zwecke. Jedenfalls würden diese Summen genügen, um der Staatswirtschaft neue Bahnen zu erschließe», viel¬ leicht eine Ära von Kanalbanten zu eröffnen, welche der Periode, der wir unser Eisenbahnnetz verdanken, an Größe und befruchtender Wirkung nicht nachstehen würde. Man wird einwenden, daß die Tilgungspflicht weitaus zum größten Teil auf Gesetz oder Vertrag beruhe, also nicht ohne Gewaltakt und Treubruch beseitigt werden könne. Allein da die Gläubiger keinen Wert auf die Tilgung legen, dieselbe im Gegenteil als eine Unbequemlichkeit empfinden, so würde sich ein Ausweg leicht finden lassen. Man brauchte ja nur an die Wahl der Obli- gationsinhaber zu appelliren; es würde sich ergeben, daß nur sehr wenige auf der Amortisation bestünden, und diese wenigen könnte man entweder durch Rück¬ zahlung oder durch die Kreirung eines besondern mnortisirbaren Urlebens zu¬ friedenstellen. Lsiiolioig. non odtruäuuwr. Wenn das deutsche Reich bestrebt ist, der Industrie neue Absatzwege zu eröffnen, so mag es zwar zunächst eine Befruchtung der Arbeit im Auge haben, mittelbar aber sorgt eine solche Politik ebenso für das Kapital. Denn wenn die Produktion zunimmt, so beschäftigt sie nicht mir mehr Arbeiter, sondern auch mehr Kapital; es müßte also sowohl der Arbeitslohn als der Zinsfuß steigen oder doch vor einem weiteren Sinken bewahrt bleiben. Um aber eine solche Wirkung zu üben, müßte unser Export Verhältnisse annehmen, die wir vernünftigerweise uicht in sehr naher Zeit erwarten dürfen.*) Wenn aber Deutschland aufhörte, jährlich 80 bis 100 Millionen auf den Kapitalmarkt zu werfen, und vermittelst derselben eine großartige Politik frucht¬ barer Kulturanlagen eröffnete, so würde die Wirkung auf Arbeit und Kapital nicht ausbleiben. Das von der unnatürlichen Konkurrenz der Amortisationen befreite Kapital würde sich entwöhnen, nur noch in festen Renten Anlage zu suchen, es würde den Mut wieder gewinnen, sich im großen bei industriellen Unternehmungen zu beteiligen, und reges Leben könnte einkehren, wo jetzt Ver¬ sumpfung herrscht. Ein bemerkenswerter Aufsatz über das Sinken der Preise, welchen jüngst die „Zeitschrift für Stahl und Eisen" brachte, hat ähnliche Ge¬ danken ausgesprochen und, freilich nur sehr schüchtern, für eine Periode um- *) Der französische Exminister Jules Ferry hat freilich andre Ansichten von einer Ko- lonialpolitik. Er sagte am 28. Juli d, I.: „Der Erwerb von Kolonien ist ein Gewinn, auch wenn dieselben nicht als eine Ableitung des Bevvlkeruugsiiberschnsses dienen. Die Kapitalien die man aus ihnen zieht, stärken das Mutterland; denn um die einheimische Arbeit zu ver¬ werten, sind große Kapitalien nötig." Als ob Frankreich Mangel an Kapital hätte, und als ob Toniin und Aram Kapitalien liefern könnten! Freilich sind solche Reden nicht crust zu nehmen, sie haben zunächst uur taktische Zwecke, und es ist anzunehmen, daß Herr Ferry mehr von Nationalökonomie versteht, als aus dieser Rede ersichtlich ist, obgleich dieselbe einen sensationellen Erfolg hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/607>, abgerufen am 25.11.2024.