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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Notstand des privcitkapiwls.

Solche Erwägungen würden die Staatslenker weiter zu der Besorgnis
führen, daß bei andauerndem Sinken des Zinsfußes der Antrieb zum Sparen
namentlich unter den kleinen Leuten abnehmen könnte, daß sie, nicht mehr von
einem angemessnen Zinse zur Anlage verführt, geneigt sein möchten, ihre Er¬
sparnisse zu verzehren, daß die Genußsucht wachsen und alle damit zusammen¬
hängenden Übel sich einstellen müßten.

Aber um des Himmels willen, wird man fragen, was soll denn der Staat
thun?

Um eine Antwort hierauf zu geben, müssen wir die Ursachen der Verän¬
derung des Zinsfußes näher ins Auge fassen.

Wir haben bereits oben bemerkt, daß in der Periode unsers wirtschaftlichen
Erwachens (1830--1845) der Zinsfuß niedrig blieb, obwohl erhöhte Ansprüche
an das Kapital gemacht wurden. Diese an sich auffällige Erscheinung erklärt
sich durch die große Langsamkeit, mit welcher sich das wirtschaftliche Fortschreiten
vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden Kapitals, welches mehr als
das deutsche gewohnt war, in der Industrie Anlage zu suchen. Mit der zweiten
Hälfte der vierziger Jahre begann nun eine etwa drei Jahrzehnte andauernde
Periode der lebhaftesten wirtschaftlichen Thätigkeit fast aller Völker der zivili-
sirten Welt. Diese Periode ist dnrch den Eisenbahnbau charakterisirt. Europa
und Amerika bedeckten sich mit einem dichten Netze von Schienenwegen und
webten das ungeheure Maschenwerk von Telegraphendrähten, in dessen Besitze
wir uns heute erfreuen. Diese Riesenarbeiten belebten direkt und indirekt fast
alle andern Industrien und steigerten den Unternehmungsgeist auf eine bis dahin
ungeahnte Höhe. Diese ganze Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unter¬
stützung des in der Vergangenheit angesammelten Kapitals und mußte daher,
zumal da der Aufschwung alle Kulturländer gleichzeitig berührte, eine Steigerung
des Zinsfußes zur Folge haben. Nebenbei gesagt, sind in dieser Periode auch
die Arbeiterlöhne in sehr erheblichem Maße gestiegen.

Diese so hoch gesteigerte wirtschaftliche Thätigkeit erzeugte eine Menge
neuer Kapitalien, welche nun Verwendung suchten, während der Gang der
Industrie ein sehr bedächtiges Tempo annahm und fortan nur sehr geringe
Ansprüche an das vermehrte Kapital stellte. Die natürliche Folge war ein
rasches Sinken des Zinsfußes. Einige Zahlen mögen den Umschwung der Ver¬
hältnisse erläutern.

In den 33 Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen 5098^ Millionen
Mark dem Kapitalmarkte für Eisenbahnbauten entnommen, also jährlich 1S4^
Millionen. Von 1879 bis 1884 war der Bedarf für den gleichen Zweck nur
272^ Millionen, also jährlich nur 54^ Millionen gegen 154^ Millionen
der vorhergegangenen Periode. Zieht man von dieser zur Verwendung ge¬
kommenen Summe 166 Millionen ab, welche als bereits vorhandne Fonds mit
den verstaatlichter Eisenbahnen in Besitz des Staates gekommen waren, so bleibt


Der Notstand des privcitkapiwls.

Solche Erwägungen würden die Staatslenker weiter zu der Besorgnis
führen, daß bei andauerndem Sinken des Zinsfußes der Antrieb zum Sparen
namentlich unter den kleinen Leuten abnehmen könnte, daß sie, nicht mehr von
einem angemessnen Zinse zur Anlage verführt, geneigt sein möchten, ihre Er¬
sparnisse zu verzehren, daß die Genußsucht wachsen und alle damit zusammen¬
hängenden Übel sich einstellen müßten.

Aber um des Himmels willen, wird man fragen, was soll denn der Staat
thun?

Um eine Antwort hierauf zu geben, müssen wir die Ursachen der Verän¬
derung des Zinsfußes näher ins Auge fassen.

Wir haben bereits oben bemerkt, daß in der Periode unsers wirtschaftlichen
Erwachens (1830—1845) der Zinsfuß niedrig blieb, obwohl erhöhte Ansprüche
an das Kapital gemacht wurden. Diese an sich auffällige Erscheinung erklärt
sich durch die große Langsamkeit, mit welcher sich das wirtschaftliche Fortschreiten
vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden Kapitals, welches mehr als
das deutsche gewohnt war, in der Industrie Anlage zu suchen. Mit der zweiten
Hälfte der vierziger Jahre begann nun eine etwa drei Jahrzehnte andauernde
Periode der lebhaftesten wirtschaftlichen Thätigkeit fast aller Völker der zivili-
sirten Welt. Diese Periode ist dnrch den Eisenbahnbau charakterisirt. Europa
und Amerika bedeckten sich mit einem dichten Netze von Schienenwegen und
webten das ungeheure Maschenwerk von Telegraphendrähten, in dessen Besitze
wir uns heute erfreuen. Diese Riesenarbeiten belebten direkt und indirekt fast
alle andern Industrien und steigerten den Unternehmungsgeist auf eine bis dahin
ungeahnte Höhe. Diese ganze Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unter¬
stützung des in der Vergangenheit angesammelten Kapitals und mußte daher,
zumal da der Aufschwung alle Kulturländer gleichzeitig berührte, eine Steigerung
des Zinsfußes zur Folge haben. Nebenbei gesagt, sind in dieser Periode auch
die Arbeiterlöhne in sehr erheblichem Maße gestiegen.

Diese so hoch gesteigerte wirtschaftliche Thätigkeit erzeugte eine Menge
neuer Kapitalien, welche nun Verwendung suchten, während der Gang der
Industrie ein sehr bedächtiges Tempo annahm und fortan nur sehr geringe
Ansprüche an das vermehrte Kapital stellte. Die natürliche Folge war ein
rasches Sinken des Zinsfußes. Einige Zahlen mögen den Umschwung der Ver¬
hältnisse erläutern.

In den 33 Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen 5098^ Millionen
Mark dem Kapitalmarkte für Eisenbahnbauten entnommen, also jährlich 1S4^
Millionen. Von 1879 bis 1884 war der Bedarf für den gleichen Zweck nur
272^ Millionen, also jährlich nur 54^ Millionen gegen 154^ Millionen
der vorhergegangenen Periode. Zieht man von dieser zur Verwendung ge¬
kommenen Summe 166 Millionen ab, welche als bereits vorhandne Fonds mit
den verstaatlichter Eisenbahnen in Besitz des Staates gekommen waren, so bleibt


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[0599] Der Notstand des privcitkapiwls. Solche Erwägungen würden die Staatslenker weiter zu der Besorgnis führen, daß bei andauerndem Sinken des Zinsfußes der Antrieb zum Sparen namentlich unter den kleinen Leuten abnehmen könnte, daß sie, nicht mehr von einem angemessnen Zinse zur Anlage verführt, geneigt sein möchten, ihre Er¬ sparnisse zu verzehren, daß die Genußsucht wachsen und alle damit zusammen¬ hängenden Übel sich einstellen müßten. Aber um des Himmels willen, wird man fragen, was soll denn der Staat thun? Um eine Antwort hierauf zu geben, müssen wir die Ursachen der Verän¬ derung des Zinsfußes näher ins Auge fassen. Wir haben bereits oben bemerkt, daß in der Periode unsers wirtschaftlichen Erwachens (1830—1845) der Zinsfuß niedrig blieb, obwohl erhöhte Ansprüche an das Kapital gemacht wurden. Diese an sich auffällige Erscheinung erklärt sich durch die große Langsamkeit, mit welcher sich das wirtschaftliche Fortschreiten vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden Kapitals, welches mehr als das deutsche gewohnt war, in der Industrie Anlage zu suchen. Mit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre begann nun eine etwa drei Jahrzehnte andauernde Periode der lebhaftesten wirtschaftlichen Thätigkeit fast aller Völker der zivili- sirten Welt. Diese Periode ist dnrch den Eisenbahnbau charakterisirt. Europa und Amerika bedeckten sich mit einem dichten Netze von Schienenwegen und webten das ungeheure Maschenwerk von Telegraphendrähten, in dessen Besitze wir uns heute erfreuen. Diese Riesenarbeiten belebten direkt und indirekt fast alle andern Industrien und steigerten den Unternehmungsgeist auf eine bis dahin ungeahnte Höhe. Diese ganze Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unter¬ stützung des in der Vergangenheit angesammelten Kapitals und mußte daher, zumal da der Aufschwung alle Kulturländer gleichzeitig berührte, eine Steigerung des Zinsfußes zur Folge haben. Nebenbei gesagt, sind in dieser Periode auch die Arbeiterlöhne in sehr erheblichem Maße gestiegen. Diese so hoch gesteigerte wirtschaftliche Thätigkeit erzeugte eine Menge neuer Kapitalien, welche nun Verwendung suchten, während der Gang der Industrie ein sehr bedächtiges Tempo annahm und fortan nur sehr geringe Ansprüche an das vermehrte Kapital stellte. Die natürliche Folge war ein rasches Sinken des Zinsfußes. Einige Zahlen mögen den Umschwung der Ver¬ hältnisse erläutern. In den 33 Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen 5098^ Millionen Mark dem Kapitalmarkte für Eisenbahnbauten entnommen, also jährlich 1S4^ Millionen. Von 1879 bis 1884 war der Bedarf für den gleichen Zweck nur 272^ Millionen, also jährlich nur 54^ Millionen gegen 154^ Millionen der vorhergegangenen Periode. Zieht man von dieser zur Verwendung ge¬ kommenen Summe 166 Millionen ab, welche als bereits vorhandne Fonds mit den verstaatlichter Eisenbahnen in Besitz des Staates gekommen waren, so bleibt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/599>, abgerufen am 28.07.2024.