Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuere Literatur über Nordamerika.

verurteilte und flüchtig gewordne konservative Wirtschaftsreformer, hat sich in
der Fremde nach und nach in eine so trübsinnige Auffassung deutscher Wirtschafts-
zustäude und eine solche Feindseligkeit gegen den deutschen Reichskanzler und
dessen Regierungssystem hineingearbeitet, daß dadurch für viele seine Schriften
ungenießbar geworden sind. Sein Werk wimmelt voll grober und thörichter
Ausfälle auf Bismarck. Wenn er sich wenigstens darauf beschränkte, eine Kritik
an dessen Wirtschaftssystem zu üben, er vergreift sich aber auch an dessen an¬
erkanntesten Leistungen in der auswärtigen Politik. Er spricht in der leicht¬
fertigsten Weise von Bismarcks "Unfähigkeit, Europa den Frieden zu sichern"
u. dergl. mehr. Überaus komisch nimmt sich neben der Herabsetzung Bismarcks und
andrer europäischer Staatsmänner die eigne Erhöhung des Verfassers aus, der
irgendwo vou sich sagt, daß er mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes schreibe,
welcher über die reife Frucht planmäßiger Arbeit verfüge, und daß in Deutsch¬
land kein Mann sei, der auch nur imstande wäre, zu kontroliren, was er ge¬
schrieben habe, alles nämlich, nicht das oder jenes Detail. Diese Sprache ist
die eines von Größenwahn befallenen, sie soll uns aber nicht abhalten, das viele
Lesbare des Reiseberichts anzuerkennen. Meyers Reise -- er begleitete einige
gräfliche Gönner aus Ungarn -- ging durch einen großen Teil der Vereinigten
Staaten. Die Reisenden sahen sich zuerst in den großen Hafenstädten der
Ostküste um; die Einrichtungen derselben für Getreide- und Kohlentransport,
Magaziniruug, Sortirung und Verladung werden eingehend beschrieben. Sie
fuhren dann durch das gemüsebaueude und waldreiche Florida nach Neworleans.
Dort wird dem Aufschwung der Industrie im Süden Aufmerksamkeit gewidmet
und die Aussichten ans neue Frachtwege für das Getreide vou den Paeisic-
staateu her werden erörtert; dann folgt die Vereisung der für die Ansiedlung so
einladenden Staate" Texas und Kansas, worauf die Reisenden auf der damals
eben erst eröffneten Bahn von Kansas über Santa Fe nach San Francisco
gelangen. Die letztere Fahrt und die Abstecher davon geben Gelegenheit zur
Beobachtung der riesigen Großgrundbesitzer, welche noch aus den Zeiten der
frühern mexikanischen Herrschaft herrühren. Dann geht es wieder ostwärts.
Das Land Utah mit seiner durch künstliche Bewässerung erzeugten musterhaften
Bebauung flößt Meyer Hochachtung vor dem Fleiß und der Wirtschaftlichkeit der
Mormonen ein. In Chicago widmet er sich dein Besuche der Schlächtereien
und sucht tiefer in die Geheimnisse der Abdeckereien einzudringen. In weiteren
Abschnitten wird die Landwirtschaft in Manitoba, Ostkanada, Michigan, Illinois
der Gegenstand der Besichtigung. In den Reisebericht eingestreut sind besondre
Abhandlungen über das Verkehrswesen, das Unterrichtswesen, die Organisation
des landwirtschaftlichen Ministeriums, die Staats- und Gemeindeverfassung, das
Molkereiwesen u. dergl. in.

Meyer hat unterwegs ein großes Notizmaterial gesammelt, aus dem er
mit vollen? Händen schöpft, leider oft mit zu wenig Sichtung. So wiederholen


Neuere Literatur über Nordamerika.

verurteilte und flüchtig gewordne konservative Wirtschaftsreformer, hat sich in
der Fremde nach und nach in eine so trübsinnige Auffassung deutscher Wirtschafts-
zustäude und eine solche Feindseligkeit gegen den deutschen Reichskanzler und
dessen Regierungssystem hineingearbeitet, daß dadurch für viele seine Schriften
ungenießbar geworden sind. Sein Werk wimmelt voll grober und thörichter
Ausfälle auf Bismarck. Wenn er sich wenigstens darauf beschränkte, eine Kritik
an dessen Wirtschaftssystem zu üben, er vergreift sich aber auch an dessen an¬
erkanntesten Leistungen in der auswärtigen Politik. Er spricht in der leicht¬
fertigsten Weise von Bismarcks „Unfähigkeit, Europa den Frieden zu sichern"
u. dergl. mehr. Überaus komisch nimmt sich neben der Herabsetzung Bismarcks und
andrer europäischer Staatsmänner die eigne Erhöhung des Verfassers aus, der
irgendwo vou sich sagt, daß er mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes schreibe,
welcher über die reife Frucht planmäßiger Arbeit verfüge, und daß in Deutsch¬
land kein Mann sei, der auch nur imstande wäre, zu kontroliren, was er ge¬
schrieben habe, alles nämlich, nicht das oder jenes Detail. Diese Sprache ist
die eines von Größenwahn befallenen, sie soll uns aber nicht abhalten, das viele
Lesbare des Reiseberichts anzuerkennen. Meyers Reise — er begleitete einige
gräfliche Gönner aus Ungarn — ging durch einen großen Teil der Vereinigten
Staaten. Die Reisenden sahen sich zuerst in den großen Hafenstädten der
Ostküste um; die Einrichtungen derselben für Getreide- und Kohlentransport,
Magaziniruug, Sortirung und Verladung werden eingehend beschrieben. Sie
fuhren dann durch das gemüsebaueude und waldreiche Florida nach Neworleans.
Dort wird dem Aufschwung der Industrie im Süden Aufmerksamkeit gewidmet
und die Aussichten ans neue Frachtwege für das Getreide vou den Paeisic-
staateu her werden erörtert; dann folgt die Vereisung der für die Ansiedlung so
einladenden Staate« Texas und Kansas, worauf die Reisenden auf der damals
eben erst eröffneten Bahn von Kansas über Santa Fe nach San Francisco
gelangen. Die letztere Fahrt und die Abstecher davon geben Gelegenheit zur
Beobachtung der riesigen Großgrundbesitzer, welche noch aus den Zeiten der
frühern mexikanischen Herrschaft herrühren. Dann geht es wieder ostwärts.
Das Land Utah mit seiner durch künstliche Bewässerung erzeugten musterhaften
Bebauung flößt Meyer Hochachtung vor dem Fleiß und der Wirtschaftlichkeit der
Mormonen ein. In Chicago widmet er sich dein Besuche der Schlächtereien
und sucht tiefer in die Geheimnisse der Abdeckereien einzudringen. In weiteren
Abschnitten wird die Landwirtschaft in Manitoba, Ostkanada, Michigan, Illinois
der Gegenstand der Besichtigung. In den Reisebericht eingestreut sind besondre
Abhandlungen über das Verkehrswesen, das Unterrichtswesen, die Organisation
des landwirtschaftlichen Ministeriums, die Staats- und Gemeindeverfassung, das
Molkereiwesen u. dergl. in.

Meyer hat unterwegs ein großes Notizmaterial gesammelt, aus dem er
mit vollen? Händen schöpft, leider oft mit zu wenig Sichtung. So wiederholen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0586" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196686"/>
          <fw type="header" place="top"> Neuere Literatur über Nordamerika.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2203" prev="#ID_2202"> verurteilte und flüchtig gewordne konservative Wirtschaftsreformer, hat sich in<lb/>
der Fremde nach und nach in eine so trübsinnige Auffassung deutscher Wirtschafts-<lb/>
zustäude und eine solche Feindseligkeit gegen den deutschen Reichskanzler und<lb/>
dessen Regierungssystem hineingearbeitet, daß dadurch für viele seine Schriften<lb/>
ungenießbar geworden sind. Sein Werk wimmelt voll grober und thörichter<lb/>
Ausfälle auf Bismarck. Wenn er sich wenigstens darauf beschränkte, eine Kritik<lb/>
an dessen Wirtschaftssystem zu üben, er vergreift sich aber auch an dessen an¬<lb/>
erkanntesten Leistungen in der auswärtigen Politik. Er spricht in der leicht¬<lb/>
fertigsten Weise von Bismarcks &#x201E;Unfähigkeit, Europa den Frieden zu sichern"<lb/>
u. dergl. mehr. Überaus komisch nimmt sich neben der Herabsetzung Bismarcks und<lb/>
andrer europäischer Staatsmänner die eigne Erhöhung des Verfassers aus, der<lb/>
irgendwo vou sich sagt, daß er mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes schreibe,<lb/>
welcher über die reife Frucht planmäßiger Arbeit verfüge, und daß in Deutsch¬<lb/>
land kein Mann sei, der auch nur imstande wäre, zu kontroliren, was er ge¬<lb/>
schrieben habe, alles nämlich, nicht das oder jenes Detail. Diese Sprache ist<lb/>
die eines von Größenwahn befallenen, sie soll uns aber nicht abhalten, das viele<lb/>
Lesbare des Reiseberichts anzuerkennen. Meyers Reise &#x2014; er begleitete einige<lb/>
gräfliche Gönner aus Ungarn &#x2014; ging durch einen großen Teil der Vereinigten<lb/>
Staaten. Die Reisenden sahen sich zuerst in den großen Hafenstädten der<lb/>
Ostküste um; die Einrichtungen derselben für Getreide- und Kohlentransport,<lb/>
Magaziniruug, Sortirung und Verladung werden eingehend beschrieben. Sie<lb/>
fuhren dann durch das gemüsebaueude und waldreiche Florida nach Neworleans.<lb/>
Dort wird dem Aufschwung der Industrie im Süden Aufmerksamkeit gewidmet<lb/>
und die Aussichten ans neue Frachtwege für das Getreide vou den Paeisic-<lb/>
staateu her werden erörtert; dann folgt die Vereisung der für die Ansiedlung so<lb/>
einladenden Staate« Texas und Kansas, worauf die Reisenden auf der damals<lb/>
eben erst eröffneten Bahn von Kansas über Santa Fe nach San Francisco<lb/>
gelangen. Die letztere Fahrt und die Abstecher davon geben Gelegenheit zur<lb/>
Beobachtung der riesigen Großgrundbesitzer, welche noch aus den Zeiten der<lb/>
frühern mexikanischen Herrschaft herrühren. Dann geht es wieder ostwärts.<lb/>
Das Land Utah mit seiner durch künstliche Bewässerung erzeugten musterhaften<lb/>
Bebauung flößt Meyer Hochachtung vor dem Fleiß und der Wirtschaftlichkeit der<lb/>
Mormonen ein. In Chicago widmet er sich dein Besuche der Schlächtereien<lb/>
und sucht tiefer in die Geheimnisse der Abdeckereien einzudringen. In weiteren<lb/>
Abschnitten wird die Landwirtschaft in Manitoba, Ostkanada, Michigan, Illinois<lb/>
der Gegenstand der Besichtigung. In den Reisebericht eingestreut sind besondre<lb/>
Abhandlungen über das Verkehrswesen, das Unterrichtswesen, die Organisation<lb/>
des landwirtschaftlichen Ministeriums, die Staats- und Gemeindeverfassung, das<lb/>
Molkereiwesen u. dergl. in.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2204" next="#ID_2205"> Meyer hat unterwegs ein großes Notizmaterial gesammelt, aus dem er<lb/>
mit vollen? Händen schöpft, leider oft mit zu wenig Sichtung. So wiederholen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0586] Neuere Literatur über Nordamerika. verurteilte und flüchtig gewordne konservative Wirtschaftsreformer, hat sich in der Fremde nach und nach in eine so trübsinnige Auffassung deutscher Wirtschafts- zustäude und eine solche Feindseligkeit gegen den deutschen Reichskanzler und dessen Regierungssystem hineingearbeitet, daß dadurch für viele seine Schriften ungenießbar geworden sind. Sein Werk wimmelt voll grober und thörichter Ausfälle auf Bismarck. Wenn er sich wenigstens darauf beschränkte, eine Kritik an dessen Wirtschaftssystem zu üben, er vergreift sich aber auch an dessen an¬ erkanntesten Leistungen in der auswärtigen Politik. Er spricht in der leicht¬ fertigsten Weise von Bismarcks „Unfähigkeit, Europa den Frieden zu sichern" u. dergl. mehr. Überaus komisch nimmt sich neben der Herabsetzung Bismarcks und andrer europäischer Staatsmänner die eigne Erhöhung des Verfassers aus, der irgendwo vou sich sagt, daß er mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes schreibe, welcher über die reife Frucht planmäßiger Arbeit verfüge, und daß in Deutsch¬ land kein Mann sei, der auch nur imstande wäre, zu kontroliren, was er ge¬ schrieben habe, alles nämlich, nicht das oder jenes Detail. Diese Sprache ist die eines von Größenwahn befallenen, sie soll uns aber nicht abhalten, das viele Lesbare des Reiseberichts anzuerkennen. Meyers Reise — er begleitete einige gräfliche Gönner aus Ungarn — ging durch einen großen Teil der Vereinigten Staaten. Die Reisenden sahen sich zuerst in den großen Hafenstädten der Ostküste um; die Einrichtungen derselben für Getreide- und Kohlentransport, Magaziniruug, Sortirung und Verladung werden eingehend beschrieben. Sie fuhren dann durch das gemüsebaueude und waldreiche Florida nach Neworleans. Dort wird dem Aufschwung der Industrie im Süden Aufmerksamkeit gewidmet und die Aussichten ans neue Frachtwege für das Getreide vou den Paeisic- staateu her werden erörtert; dann folgt die Vereisung der für die Ansiedlung so einladenden Staate« Texas und Kansas, worauf die Reisenden auf der damals eben erst eröffneten Bahn von Kansas über Santa Fe nach San Francisco gelangen. Die letztere Fahrt und die Abstecher davon geben Gelegenheit zur Beobachtung der riesigen Großgrundbesitzer, welche noch aus den Zeiten der frühern mexikanischen Herrschaft herrühren. Dann geht es wieder ostwärts. Das Land Utah mit seiner durch künstliche Bewässerung erzeugten musterhaften Bebauung flößt Meyer Hochachtung vor dem Fleiß und der Wirtschaftlichkeit der Mormonen ein. In Chicago widmet er sich dein Besuche der Schlächtereien und sucht tiefer in die Geheimnisse der Abdeckereien einzudringen. In weiteren Abschnitten wird die Landwirtschaft in Manitoba, Ostkanada, Michigan, Illinois der Gegenstand der Besichtigung. In den Reisebericht eingestreut sind besondre Abhandlungen über das Verkehrswesen, das Unterrichtswesen, die Organisation des landwirtschaftlichen Ministeriums, die Staats- und Gemeindeverfassung, das Molkereiwesen u. dergl. in. Meyer hat unterwegs ein großes Notizmaterial gesammelt, aus dem er mit vollen? Händen schöpft, leider oft mit zu wenig Sichtung. So wiederholen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/586
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/586>, abgerufen am 25.11.2024.