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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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auf eine lange Zeit die Herrschaft in Ostpreußen gegeben und macht jetzt noch
(in einer Provinz, welche durch Natur und Geschichte zu einem Bollwerk des
ausgesprochensten Konservatismus bestimmt ist) den Kampf gegen den Fort¬
schritt zu einem schweren und gefahrenreichen. Jetzt noch besteht fast die Hälfte
des Prvvinziallandtags aus Fortschrittlern; in zahlreichen Kreistagen hat diese
Partei noch die ausschließliche Herrschaft, in andern die starke Mehrheit; in den
landwirtschaftlichen Vereinen ist ihre Herrschaft erst in allerneuester Zeit etwas
ins Schwanken gekommen. Aus Reichstag und Landtag allerdings sind, ab¬
gesehen von den Vertretern der Stadt Königsberg, die Fvrtschrittler ausgemerzt.
Immer noch ist aber diese Partei in der Presse, sowie im öffentlichen und ge¬
sellschaftlichen Leben durchaus vorwiegend. Wie ist das möglich? Sind diese
fortschrittlichen Landwirte Gegner einer Preissteigerung für Getreide und über¬
haupt einer größeren Berücksichtigung der Landwirtschaft? Sind sie ernstlich
der Meinung, daß die liberale Sozialgesetzgebung speziell für den Landwirt er¬
freuliche Früchte gezeitigt habe? Oder sind sie vielleicht lauter unerschütterliche
Catone, die ihr eignes Interesse auf Schritt und Tritt dem Gemeinwohl, wie
sie dasselbe verstehen, zum Opfer bringen, ohne mit der Wimper zu zucken?
Gewiß ist von alledem kein Wort wahr, ja man kann wohl im Gegenteil sagen,
daß kein Landwirt auf der Welt weniger als der ostpreußische zu dergleichen
unfruchtbaren Tugendhaftigkeiten geneigt sein wird. Es ist vielmehr eine eigen¬
tümliche, mannichfach zusammengesetzte Reihe äußerer und pshchischer Einflüsse,
welche die Haltung dieser fortschrittlichen Besitzer erzeugen, und wenn man sich
bemüht hat, über das Wesen dieser Einflüsse ins Klare zu kommen, so bleibt
die Sache zwar immerhin wunderlich und schwerverständlich, aber gänzlich un¬
begreiflich ist sie dann nicht mehr, zumal wenn man bedenkt, daß die Leiden¬
schaften, überhaupt die Gemütsaffekte der Menschen, stets stärker gewesen sind
als ihr Vorteil.

Vor allem muß man nicht leugnen wollen, daß auf feiten der adelichen
Großgrundbesitzer früher viel gesündigt worden sein muß. Mag noch so vieles
auf Rechnung von Hetzereien, von gegenstandslosen Vorurteilen, von neidischen
Eifersüchteleien zu setzen sein -- es muß doch eine reelle Grundlage für das
tiefe Mißtrauen übrigbleiben, mit dem hier wie anderswo die mittleren und
kleinen Besitzer den großen, also hauptsächlich doch den "Grafen und Baronen."
gegenüberstanden und zum Teil noch gegenüberstehen. Wohl kann man mit
gutem Rechte sagen, daß der Adel sich in neuerer Zeit vielfach bemüht, sich
wieder eine seiner würdige Rolle zu schaffen; aber es muß gesagt werden, daß
selbst dies noch keineswegs so allgemein und in so wohldurchdachter Weise statt¬
findet, wie es zu wünschen wäre, und ohne Zweifel ist in früherer Zeit viel ver¬
säumt und viel Übles begangen worden. Auch liegt diese Zeit noch garnicht
so weit hinter uns. Wohlgesinnte, treffliche Männer, die selbst diesem Stande
angehören, haben uns wiederholt mit Entrüstung von den Ausbrüchen


auf eine lange Zeit die Herrschaft in Ostpreußen gegeben und macht jetzt noch
(in einer Provinz, welche durch Natur und Geschichte zu einem Bollwerk des
ausgesprochensten Konservatismus bestimmt ist) den Kampf gegen den Fort¬
schritt zu einem schweren und gefahrenreichen. Jetzt noch besteht fast die Hälfte
des Prvvinziallandtags aus Fortschrittlern; in zahlreichen Kreistagen hat diese
Partei noch die ausschließliche Herrschaft, in andern die starke Mehrheit; in den
landwirtschaftlichen Vereinen ist ihre Herrschaft erst in allerneuester Zeit etwas
ins Schwanken gekommen. Aus Reichstag und Landtag allerdings sind, ab¬
gesehen von den Vertretern der Stadt Königsberg, die Fvrtschrittler ausgemerzt.
Immer noch ist aber diese Partei in der Presse, sowie im öffentlichen und ge¬
sellschaftlichen Leben durchaus vorwiegend. Wie ist das möglich? Sind diese
fortschrittlichen Landwirte Gegner einer Preissteigerung für Getreide und über¬
haupt einer größeren Berücksichtigung der Landwirtschaft? Sind sie ernstlich
der Meinung, daß die liberale Sozialgesetzgebung speziell für den Landwirt er¬
freuliche Früchte gezeitigt habe? Oder sind sie vielleicht lauter unerschütterliche
Catone, die ihr eignes Interesse auf Schritt und Tritt dem Gemeinwohl, wie
sie dasselbe verstehen, zum Opfer bringen, ohne mit der Wimper zu zucken?
Gewiß ist von alledem kein Wort wahr, ja man kann wohl im Gegenteil sagen,
daß kein Landwirt auf der Welt weniger als der ostpreußische zu dergleichen
unfruchtbaren Tugendhaftigkeiten geneigt sein wird. Es ist vielmehr eine eigen¬
tümliche, mannichfach zusammengesetzte Reihe äußerer und pshchischer Einflüsse,
welche die Haltung dieser fortschrittlichen Besitzer erzeugen, und wenn man sich
bemüht hat, über das Wesen dieser Einflüsse ins Klare zu kommen, so bleibt
die Sache zwar immerhin wunderlich und schwerverständlich, aber gänzlich un¬
begreiflich ist sie dann nicht mehr, zumal wenn man bedenkt, daß die Leiden¬
schaften, überhaupt die Gemütsaffekte der Menschen, stets stärker gewesen sind
als ihr Vorteil.

Vor allem muß man nicht leugnen wollen, daß auf feiten der adelichen
Großgrundbesitzer früher viel gesündigt worden sein muß. Mag noch so vieles
auf Rechnung von Hetzereien, von gegenstandslosen Vorurteilen, von neidischen
Eifersüchteleien zu setzen sein — es muß doch eine reelle Grundlage für das
tiefe Mißtrauen übrigbleiben, mit dem hier wie anderswo die mittleren und
kleinen Besitzer den großen, also hauptsächlich doch den „Grafen und Baronen."
gegenüberstanden und zum Teil noch gegenüberstehen. Wohl kann man mit
gutem Rechte sagen, daß der Adel sich in neuerer Zeit vielfach bemüht, sich
wieder eine seiner würdige Rolle zu schaffen; aber es muß gesagt werden, daß
selbst dies noch keineswegs so allgemein und in so wohldurchdachter Weise statt¬
findet, wie es zu wünschen wäre, und ohne Zweifel ist in früherer Zeit viel ver¬
säumt und viel Übles begangen worden. Auch liegt diese Zeit noch garnicht
so weit hinter uns. Wohlgesinnte, treffliche Männer, die selbst diesem Stande
angehören, haben uns wiederholt mit Entrüstung von den Ausbrüchen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/58>, abgerufen am 06.10.2024.