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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Gocthiana,

In Voller Ruhe verarbeitete er hier zunächst, was er von "seinein" Goethe
gelernt hatte, schrieb mehrere ziemlich bedeutende Aufsätze über "den großen
Meister," über deutsche Literatur, und beschäftigte sich ernstlich mit deutscher
Geschichte, besonders mit Ulrich von Hütten und Franz von Sickingen. Sogar
die Pläne, ein großes Leben Luthers zu schreiben und eine zusammenhängende
deutsche Literaturgeschichte zu verfassen, gingen ihm durch den Kopf.

Vor allem aber wurde ihm klar, daß seine "Lehrzeit" vorüber sei, das;
er jetzt ans eigne Bahnen kommen müsse, "die eigne, arme Sendung zu er¬
füllen," wie er sein Lebenswerk selbst bescheiden nannte. Mit seinem Herz¬
blut wollte er endlich schreiben, wie es einmal in einem Briefe an seinen
Bruder heißt, und allerdings, mit seinem Herzblute schrieb er den "sartor
Nesartus," die große Frucht seines langen Aufenthaltes in jenem "schottischen
Sibirien."

In dieselbe Zeit, in der wir in Carlyles Tagebüchern die ersten Andeu-
tungen des "wilden" Werkes finden, fällt die Büchersendung, welche von dem
unten abgedruckten Briefe Goethes begleitet war, der aus Carlyles Nachlaß in
deu Besitz des Professors Tyndall überging. Dem letztern verdanken wir die
Erlaubnis des Abdrucks.

Die Verbindung zwischen dem einsamen Gehöfte in der schottischen Einöde
und Weimar blieb eine sehr lebhafte und dauerte bis zu Goethes Tode, durch
welchen Cnrlyle eines Lehrers und Freundes zugleich beraubt wurde. Der
schöne Nachruf "Goethes Tod" zeigt uns, was Carlhle in dem Geschiedenen
verloren hatte.

Eine größere Arbeit über Goethes Stellung in der europäischen Literatur
wurde geplant, aber seine deutschen Studien waren jetzt thatsächlich abgeschlossen,
und außer dein Aufsätze über "Goethes Werke" und deu Übersetzungen des
"Märchens" und der "Novelle" schrieb er zunächst nichts mehr, was uns
Deutschland Bezug hatte.

Nach Vollendung des "sartor" -- der freilich noch lange des Verleger?
harrend im Kasten liegen mußte -- drängte es Carlhle, an der Lösung der po¬
litischen Fragen seiner Zeit Anteil zu nehmen, die Se. Simoniens einmal zu
behandeln und die Geschichte der französischen Revolution zu schreiben. Emer-
sons Besuch (1833) brachte ihn sogar vorübergehend auf die Idee, nach Ame¬
rika überzusiedeln oder wenigstens längere Zeit dort zuzubringen, bis er sich
endlich kurzweg entschloß, nach London zu gehen und dort sein Quartier auf¬
zuschlagen, im Zentrum des geistigen Lebens, dessen hervorragendste Persönlich¬
keit er werden sollte.

Vor seiner Abreise nach London, mitten unter dem Einfluß von all diesen
Plänen und Hoffnungen schrieb er einen Brief an Eckermann, dessen Original
wohl verloren ist, der uns aber in einer von Eckermauns eigner Hand gefer¬
tigten Übersetzung vorliegt. Dieselbe befindet sich in Weimar im Privatbesitz;


Gocthiana,

In Voller Ruhe verarbeitete er hier zunächst, was er von „seinein" Goethe
gelernt hatte, schrieb mehrere ziemlich bedeutende Aufsätze über „den großen
Meister," über deutsche Literatur, und beschäftigte sich ernstlich mit deutscher
Geschichte, besonders mit Ulrich von Hütten und Franz von Sickingen. Sogar
die Pläne, ein großes Leben Luthers zu schreiben und eine zusammenhängende
deutsche Literaturgeschichte zu verfassen, gingen ihm durch den Kopf.

Vor allem aber wurde ihm klar, daß seine „Lehrzeit" vorüber sei, das;
er jetzt ans eigne Bahnen kommen müsse, „die eigne, arme Sendung zu er¬
füllen," wie er sein Lebenswerk selbst bescheiden nannte. Mit seinem Herz¬
blut wollte er endlich schreiben, wie es einmal in einem Briefe an seinen
Bruder heißt, und allerdings, mit seinem Herzblute schrieb er den „sartor
Nesartus," die große Frucht seines langen Aufenthaltes in jenem „schottischen
Sibirien."

In dieselbe Zeit, in der wir in Carlyles Tagebüchern die ersten Andeu-
tungen des „wilden" Werkes finden, fällt die Büchersendung, welche von dem
unten abgedruckten Briefe Goethes begleitet war, der aus Carlyles Nachlaß in
deu Besitz des Professors Tyndall überging. Dem letztern verdanken wir die
Erlaubnis des Abdrucks.

Die Verbindung zwischen dem einsamen Gehöfte in der schottischen Einöde
und Weimar blieb eine sehr lebhafte und dauerte bis zu Goethes Tode, durch
welchen Cnrlyle eines Lehrers und Freundes zugleich beraubt wurde. Der
schöne Nachruf „Goethes Tod" zeigt uns, was Carlhle in dem Geschiedenen
verloren hatte.

Eine größere Arbeit über Goethes Stellung in der europäischen Literatur
wurde geplant, aber seine deutschen Studien waren jetzt thatsächlich abgeschlossen,
und außer dein Aufsätze über „Goethes Werke" und deu Übersetzungen des
„Märchens" und der „Novelle" schrieb er zunächst nichts mehr, was uns
Deutschland Bezug hatte.

Nach Vollendung des „sartor" — der freilich noch lange des Verleger?
harrend im Kasten liegen mußte — drängte es Carlhle, an der Lösung der po¬
litischen Fragen seiner Zeit Anteil zu nehmen, die Se. Simoniens einmal zu
behandeln und die Geschichte der französischen Revolution zu schreiben. Emer-
sons Besuch (1833) brachte ihn sogar vorübergehend auf die Idee, nach Ame¬
rika überzusiedeln oder wenigstens längere Zeit dort zuzubringen, bis er sich
endlich kurzweg entschloß, nach London zu gehen und dort sein Quartier auf¬
zuschlagen, im Zentrum des geistigen Lebens, dessen hervorragendste Persönlich¬
keit er werden sollte.

Vor seiner Abreise nach London, mitten unter dem Einfluß von all diesen
Plänen und Hoffnungen schrieb er einen Brief an Eckermann, dessen Original
wohl verloren ist, der uns aber in einer von Eckermauns eigner Hand gefer¬
tigten Übersetzung vorliegt. Dieselbe befindet sich in Weimar im Privatbesitz;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/568>, abgerufen am 28.07.2024.