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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die Russen in Zentralasien.

Chorassans, wenige Tagemarsche von Hemd und auf der Flanke der großen
.Heerstraße festgesetzt haben, die von jener Stadt nach Bates und Kabul führt,
hat ihr Einfluß ans das ostasintische Reich der Briten eine ganz außerordentliche
Ausbreitung erfahren. Vor kurzer Zeit noch durften die letztern dieses Reich
politisch und militärisch fast wie eine Insel betrachten; denn es ließ sich von
einem Nebenbuhler und Gegner nur zur See erreichen. Damals waren, wie
es schien, die mächtigen Gebirgsketten und die weiten Wüsten und Steppen, die
es im Norden umgeben, und die unabhängigen halbbarbarischen Charade Mittel¬
asiens eine Schutzmauer, welche seine Landseite fast so unzugänglich machten
wie der Ozean den Süden. Während des letzten Bierteljahrhunderts war es
das Bestreben Rußlands, die wichtigsten dieser Hindernisse eines Angriffs auf
Indien nach Möglichkeit zu beseitigen. Die Charade wurden eins nach dem
andern bis auf geringfügige Neste aufgezehrt, die turkomanischen Stämme in
den Oasen südlich vom Oxus dazwischen überwältigt und in leichte Truppen für
die Vorhut der zarischen Armee verwandelt, man schuf eine Flotte auf dem
Kaspisee, man begann eine Eisenbahn von seinen Gestaden durch die Oase der
Achaltekinzcn zu bauen, um rasch die in den kaukasischen und transkaukasischen
Provinzen fortwährend bereitgehaltnen starken Reserven heranziehen zu können,
wenn sich in Mittelasien und Afghanistan Gelegenheit finden sollte, in seiner
Eroberungspolitik einen weitem Vorstoß zu thun. Und damit endigen die
Pläne, die man rnssischerseits offenbar auszuführen gedenkt, noch keineswegs.
Die Landstriche im Süden des Ann Darja sollen mit den im Norden dieses
Stromes gelegnen Gegenden verbunden werden, und Rußland hofft auf beiden
Ufern Verbindungslinien herzustellen, sodaß die Hilfsquellen aller seiner neuen
Erwerbungen, sobald die Zeit und Gelegenheit gekommen ist, zu augenblicklicher
Benutzung bereit sind. Indem sie Chorassan in die Flanke nehmen, sind die
Russen in der Lage, auf diese persische Provinz einen kräftigen Druck auszu¬
üben, und bei einer Besetzung oder indirekten Beherrschung solcher Teile derselben,
welche (wie z. B. das Land, durch welches die Straße von Askabad über Mesched
nach Herat führt) für die Förderung ihrer weitreichenden Absichten von Nutzen
sein können, sind zu gleicher Zeit Persien, Afghanistan und das nordwestliche
Indien bedroht. Keins dieser Länder kann bei dem raschen Weitervordringen
einer Macht, die in den letzten Jahrzehnten soviel verschlungen und soviel weitere
Einverleibungen vorbereitet hat, gleichgiltig bleibe". Der Schah wird leicht
erkennen, daß der Nordosten seines Reiches der Annexion an die Besitzungen
Rußlands in Zentralasien entgegenrückt. Der Emir in Kabul weiß ohne
Zweifel noch bestimmter, daß die Russen das afghanische Turkestan als ihr
künftiges Eigentum ins Auge gefaßt haben und damit die Hoffnung auf den
baldigen Besitz Herats verbinden. Kein indischer Staatsmann endlich kann sich
jetzt noch gegen die Thatsache verblenden, daß die während der letzten Jahrzehnte
in Zentralasien vvllzogncn und noch geplanten russischen Eroberungen, wie sehr


Die Russen in Zentralasien.

Chorassans, wenige Tagemarsche von Hemd und auf der Flanke der großen
.Heerstraße festgesetzt haben, die von jener Stadt nach Bates und Kabul führt,
hat ihr Einfluß ans das ostasintische Reich der Briten eine ganz außerordentliche
Ausbreitung erfahren. Vor kurzer Zeit noch durften die letztern dieses Reich
politisch und militärisch fast wie eine Insel betrachten; denn es ließ sich von
einem Nebenbuhler und Gegner nur zur See erreichen. Damals waren, wie
es schien, die mächtigen Gebirgsketten und die weiten Wüsten und Steppen, die
es im Norden umgeben, und die unabhängigen halbbarbarischen Charade Mittel¬
asiens eine Schutzmauer, welche seine Landseite fast so unzugänglich machten
wie der Ozean den Süden. Während des letzten Bierteljahrhunderts war es
das Bestreben Rußlands, die wichtigsten dieser Hindernisse eines Angriffs auf
Indien nach Möglichkeit zu beseitigen. Die Charade wurden eins nach dem
andern bis auf geringfügige Neste aufgezehrt, die turkomanischen Stämme in
den Oasen südlich vom Oxus dazwischen überwältigt und in leichte Truppen für
die Vorhut der zarischen Armee verwandelt, man schuf eine Flotte auf dem
Kaspisee, man begann eine Eisenbahn von seinen Gestaden durch die Oase der
Achaltekinzcn zu bauen, um rasch die in den kaukasischen und transkaukasischen
Provinzen fortwährend bereitgehaltnen starken Reserven heranziehen zu können,
wenn sich in Mittelasien und Afghanistan Gelegenheit finden sollte, in seiner
Eroberungspolitik einen weitem Vorstoß zu thun. Und damit endigen die
Pläne, die man rnssischerseits offenbar auszuführen gedenkt, noch keineswegs.
Die Landstriche im Süden des Ann Darja sollen mit den im Norden dieses
Stromes gelegnen Gegenden verbunden werden, und Rußland hofft auf beiden
Ufern Verbindungslinien herzustellen, sodaß die Hilfsquellen aller seiner neuen
Erwerbungen, sobald die Zeit und Gelegenheit gekommen ist, zu augenblicklicher
Benutzung bereit sind. Indem sie Chorassan in die Flanke nehmen, sind die
Russen in der Lage, auf diese persische Provinz einen kräftigen Druck auszu¬
üben, und bei einer Besetzung oder indirekten Beherrschung solcher Teile derselben,
welche (wie z. B. das Land, durch welches die Straße von Askabad über Mesched
nach Herat führt) für die Förderung ihrer weitreichenden Absichten von Nutzen
sein können, sind zu gleicher Zeit Persien, Afghanistan und das nordwestliche
Indien bedroht. Keins dieser Länder kann bei dem raschen Weitervordringen
einer Macht, die in den letzten Jahrzehnten soviel verschlungen und soviel weitere
Einverleibungen vorbereitet hat, gleichgiltig bleibe«. Der Schah wird leicht
erkennen, daß der Nordosten seines Reiches der Annexion an die Besitzungen
Rußlands in Zentralasien entgegenrückt. Der Emir in Kabul weiß ohne
Zweifel noch bestimmter, daß die Russen das afghanische Turkestan als ihr
künftiges Eigentum ins Auge gefaßt haben und damit die Hoffnung auf den
baldigen Besitz Herats verbinden. Kein indischer Staatsmann endlich kann sich
jetzt noch gegen die Thatsache verblenden, daß die während der letzten Jahrzehnte
in Zentralasien vvllzogncn und noch geplanten russischen Eroberungen, wie sehr


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[0542] Die Russen in Zentralasien. Chorassans, wenige Tagemarsche von Hemd und auf der Flanke der großen .Heerstraße festgesetzt haben, die von jener Stadt nach Bates und Kabul führt, hat ihr Einfluß ans das ostasintische Reich der Briten eine ganz außerordentliche Ausbreitung erfahren. Vor kurzer Zeit noch durften die letztern dieses Reich politisch und militärisch fast wie eine Insel betrachten; denn es ließ sich von einem Nebenbuhler und Gegner nur zur See erreichen. Damals waren, wie es schien, die mächtigen Gebirgsketten und die weiten Wüsten und Steppen, die es im Norden umgeben, und die unabhängigen halbbarbarischen Charade Mittel¬ asiens eine Schutzmauer, welche seine Landseite fast so unzugänglich machten wie der Ozean den Süden. Während des letzten Bierteljahrhunderts war es das Bestreben Rußlands, die wichtigsten dieser Hindernisse eines Angriffs auf Indien nach Möglichkeit zu beseitigen. Die Charade wurden eins nach dem andern bis auf geringfügige Neste aufgezehrt, die turkomanischen Stämme in den Oasen südlich vom Oxus dazwischen überwältigt und in leichte Truppen für die Vorhut der zarischen Armee verwandelt, man schuf eine Flotte auf dem Kaspisee, man begann eine Eisenbahn von seinen Gestaden durch die Oase der Achaltekinzcn zu bauen, um rasch die in den kaukasischen und transkaukasischen Provinzen fortwährend bereitgehaltnen starken Reserven heranziehen zu können, wenn sich in Mittelasien und Afghanistan Gelegenheit finden sollte, in seiner Eroberungspolitik einen weitem Vorstoß zu thun. Und damit endigen die Pläne, die man rnssischerseits offenbar auszuführen gedenkt, noch keineswegs. Die Landstriche im Süden des Ann Darja sollen mit den im Norden dieses Stromes gelegnen Gegenden verbunden werden, und Rußland hofft auf beiden Ufern Verbindungslinien herzustellen, sodaß die Hilfsquellen aller seiner neuen Erwerbungen, sobald die Zeit und Gelegenheit gekommen ist, zu augenblicklicher Benutzung bereit sind. Indem sie Chorassan in die Flanke nehmen, sind die Russen in der Lage, auf diese persische Provinz einen kräftigen Druck auszu¬ üben, und bei einer Besetzung oder indirekten Beherrschung solcher Teile derselben, welche (wie z. B. das Land, durch welches die Straße von Askabad über Mesched nach Herat führt) für die Förderung ihrer weitreichenden Absichten von Nutzen sein können, sind zu gleicher Zeit Persien, Afghanistan und das nordwestliche Indien bedroht. Keins dieser Länder kann bei dem raschen Weitervordringen einer Macht, die in den letzten Jahrzehnten soviel verschlungen und soviel weitere Einverleibungen vorbereitet hat, gleichgiltig bleibe«. Der Schah wird leicht erkennen, daß der Nordosten seines Reiches der Annexion an die Besitzungen Rußlands in Zentralasien entgegenrückt. Der Emir in Kabul weiß ohne Zweifel noch bestimmter, daß die Russen das afghanische Turkestan als ihr künftiges Eigentum ins Auge gefaßt haben und damit die Hoffnung auf den baldigen Besitz Herats verbinden. Kein indischer Staatsmann endlich kann sich jetzt noch gegen die Thatsache verblenden, daß die während der letzten Jahrzehnte in Zentralasien vvllzogncn und noch geplanten russischen Eroberungen, wie sehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/542>, abgerufen am 01.09.2024.