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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Englische Musik.

die Originalinstrnmentirnng der Meister ist jedoch in England alt, und auch
in den Kreisen der gebildeten Musiker zu finden. Wir gaben oben hierfür ein
Beispiel bezüglich des "Messias" -- wenn alles veröffentlicht würde, wie man
mit Händelschen Werken in England bei praktischen Aufführungen und auch bei
Neudrucken derselben umgesprungen ist -- das Staunen würde groß sein!

Rührend ist die Nachsicht und die Mildthätigkeit, mit welcher der Eng¬
länder sich dieser Straßenmusik gegenüber verhält. Vor das Haus, in welchem
ich wohnte, kam mittags ein Bettler, der auf einer Trompete radebrechte, und
gleich nach ihm ein sogenannter in'M-iU Ninistrsl: ein Mensch mit schwarz-
gefärbtem Gesicht und mit bunten Lappen behängt, seinen kleinen ebenso ver¬
putzten und verunstalteten Jungen an der Hand. Erst blies er auf einem
hohlen Hausschlüssel -- nein, es war eine Flöte von einer Sorte, die in
Deutschland längst ausgestorben ist. Dann krächzte er mit dem armen Kinde
zusammen eine Parodie eines italienischen Operndnetts. Einmal läßt man sich
solche Sachen der Kuriosität halber gefallen; aber diese Virtuosen erschienen
jeden Tag zu der nämlichen Zeit wieder, und jeden Tag gaben ihnen die mit¬
leidigen Engländer willig und reichlich!

Diese ganze Straßcnmusik gehört mit zu dem Stück Mittelalter, das sich
im englischen Volksleben erhalten hat. In einzelnen Zügen tritt dieser mittel¬
alterliche Charakter besonders stark hervor: die Postillone in Devonshire blasen
Clarin, den echten, langen Clarin mit dem eigentümlich vollen und reinen Tone,
den wir in Deutschland sür unsre Bachaufführung so gern wieder eingeführt
haben möchten! Mittelalterlich ist es auch, daß die Musik zu Propaganda-
"ud Agitationszwecken benutzt wird. Dies geschieht z. B. von der vielbesprochneu
8iüvMon-^.rin^, welche die ersten Breschen in die Herzen der belagerten Ort¬
schaften mit der großen Trommel legt. Die LalviMvu-^mi^ wird in Deutsch¬
land und auf dem Festlande sehr unterschätzt und verkannt, das ist gewiß; aber
ihre Musik kann man kaum zu schlecht machen!

In dem Bilde, welches wir hier flüchtig von der englischen Musik und
vom englischen Musikleben entworfen haben, finden sich mehr freundliche Züge,
als man in Deutschland im allgemeinen annimmt. Die Anlage zur Musik
kaun man den Engländern nicht absprechen, in ihrer Neigung zu dieser Kunst
stehen sie hinter keinem Volke des Festlandes zurück. Wenn sie in dein höhern
Teile derselbe" zurückgeblieben sind, so lag das zur Hälfte wenigstens an einer
schlechten Leitung ihres Talents und an Fehlern, die noch wieder gut gemacht
werden können. Zu den schon genannten Anzeichen, welche den ernstlichen
Beginn einer Besserung zu verkünden scheinen, wollen wir noch die Neuorgani¬
sation des Gesangunterrichtes in den Volksschulen hinzufügen. Es scheint uns
darnach nicht unmöglich, daß England in der Musikgeschichte der Zukunft wieder
eine bedeutendere Stelle einnehmen wird.




Englische Musik.

die Originalinstrnmentirnng der Meister ist jedoch in England alt, und auch
in den Kreisen der gebildeten Musiker zu finden. Wir gaben oben hierfür ein
Beispiel bezüglich des „Messias" — wenn alles veröffentlicht würde, wie man
mit Händelschen Werken in England bei praktischen Aufführungen und auch bei
Neudrucken derselben umgesprungen ist — das Staunen würde groß sein!

Rührend ist die Nachsicht und die Mildthätigkeit, mit welcher der Eng¬
länder sich dieser Straßenmusik gegenüber verhält. Vor das Haus, in welchem
ich wohnte, kam mittags ein Bettler, der auf einer Trompete radebrechte, und
gleich nach ihm ein sogenannter in'M-iU Ninistrsl: ein Mensch mit schwarz-
gefärbtem Gesicht und mit bunten Lappen behängt, seinen kleinen ebenso ver¬
putzten und verunstalteten Jungen an der Hand. Erst blies er auf einem
hohlen Hausschlüssel — nein, es war eine Flöte von einer Sorte, die in
Deutschland längst ausgestorben ist. Dann krächzte er mit dem armen Kinde
zusammen eine Parodie eines italienischen Operndnetts. Einmal läßt man sich
solche Sachen der Kuriosität halber gefallen; aber diese Virtuosen erschienen
jeden Tag zu der nämlichen Zeit wieder, und jeden Tag gaben ihnen die mit¬
leidigen Engländer willig und reichlich!

Diese ganze Straßcnmusik gehört mit zu dem Stück Mittelalter, das sich
im englischen Volksleben erhalten hat. In einzelnen Zügen tritt dieser mittel¬
alterliche Charakter besonders stark hervor: die Postillone in Devonshire blasen
Clarin, den echten, langen Clarin mit dem eigentümlich vollen und reinen Tone,
den wir in Deutschland sür unsre Bachaufführung so gern wieder eingeführt
haben möchten! Mittelalterlich ist es auch, daß die Musik zu Propaganda-
»ud Agitationszwecken benutzt wird. Dies geschieht z. B. von der vielbesprochneu
8iüvMon-^.rin^, welche die ersten Breschen in die Herzen der belagerten Ort¬
schaften mit der großen Trommel legt. Die LalviMvu-^mi^ wird in Deutsch¬
land und auf dem Festlande sehr unterschätzt und verkannt, das ist gewiß; aber
ihre Musik kann man kaum zu schlecht machen!

In dem Bilde, welches wir hier flüchtig von der englischen Musik und
vom englischen Musikleben entworfen haben, finden sich mehr freundliche Züge,
als man in Deutschland im allgemeinen annimmt. Die Anlage zur Musik
kaun man den Engländern nicht absprechen, in ihrer Neigung zu dieser Kunst
stehen sie hinter keinem Volke des Festlandes zurück. Wenn sie in dein höhern
Teile derselbe» zurückgeblieben sind, so lag das zur Hälfte wenigstens an einer
schlechten Leitung ihres Talents und an Fehlern, die noch wieder gut gemacht
werden können. Zu den schon genannten Anzeichen, welche den ernstlichen
Beginn einer Besserung zu verkünden scheinen, wollen wir noch die Neuorgani¬
sation des Gesangunterrichtes in den Volksschulen hinzufügen. Es scheint uns
darnach nicht unmöglich, daß England in der Musikgeschichte der Zukunft wieder
eine bedeutendere Stelle einnehmen wird.




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[0535] Englische Musik. die Originalinstrnmentirnng der Meister ist jedoch in England alt, und auch in den Kreisen der gebildeten Musiker zu finden. Wir gaben oben hierfür ein Beispiel bezüglich des „Messias" — wenn alles veröffentlicht würde, wie man mit Händelschen Werken in England bei praktischen Aufführungen und auch bei Neudrucken derselben umgesprungen ist — das Staunen würde groß sein! Rührend ist die Nachsicht und die Mildthätigkeit, mit welcher der Eng¬ länder sich dieser Straßenmusik gegenüber verhält. Vor das Haus, in welchem ich wohnte, kam mittags ein Bettler, der auf einer Trompete radebrechte, und gleich nach ihm ein sogenannter in'M-iU Ninistrsl: ein Mensch mit schwarz- gefärbtem Gesicht und mit bunten Lappen behängt, seinen kleinen ebenso ver¬ putzten und verunstalteten Jungen an der Hand. Erst blies er auf einem hohlen Hausschlüssel — nein, es war eine Flöte von einer Sorte, die in Deutschland längst ausgestorben ist. Dann krächzte er mit dem armen Kinde zusammen eine Parodie eines italienischen Operndnetts. Einmal läßt man sich solche Sachen der Kuriosität halber gefallen; aber diese Virtuosen erschienen jeden Tag zu der nämlichen Zeit wieder, und jeden Tag gaben ihnen die mit¬ leidigen Engländer willig und reichlich! Diese ganze Straßcnmusik gehört mit zu dem Stück Mittelalter, das sich im englischen Volksleben erhalten hat. In einzelnen Zügen tritt dieser mittel¬ alterliche Charakter besonders stark hervor: die Postillone in Devonshire blasen Clarin, den echten, langen Clarin mit dem eigentümlich vollen und reinen Tone, den wir in Deutschland sür unsre Bachaufführung so gern wieder eingeführt haben möchten! Mittelalterlich ist es auch, daß die Musik zu Propaganda- »ud Agitationszwecken benutzt wird. Dies geschieht z. B. von der vielbesprochneu 8iüvMon-^.rin^, welche die ersten Breschen in die Herzen der belagerten Ort¬ schaften mit der großen Trommel legt. Die LalviMvu-^mi^ wird in Deutsch¬ land und auf dem Festlande sehr unterschätzt und verkannt, das ist gewiß; aber ihre Musik kann man kaum zu schlecht machen! In dem Bilde, welches wir hier flüchtig von der englischen Musik und vom englischen Musikleben entworfen haben, finden sich mehr freundliche Züge, als man in Deutschland im allgemeinen annimmt. Die Anlage zur Musik kaun man den Engländern nicht absprechen, in ihrer Neigung zu dieser Kunst stehen sie hinter keinem Volke des Festlandes zurück. Wenn sie in dein höhern Teile derselbe» zurückgeblieben sind, so lag das zur Hälfte wenigstens an einer schlechten Leitung ihres Talents und an Fehlern, die noch wieder gut gemacht werden können. Zu den schon genannten Anzeichen, welche den ernstlichen Beginn einer Besserung zu verkünden scheinen, wollen wir noch die Neuorgani¬ sation des Gesangunterrichtes in den Volksschulen hinzufügen. Es scheint uns darnach nicht unmöglich, daß England in der Musikgeschichte der Zukunft wieder eine bedeutendere Stelle einnehmen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/535>, abgerufen am 01.09.2024.