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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Englische Musik.

Orchester besessen hätte. Daran ist es aber bis auf den heutigen Tag noch
in einem Grade arm, welcher einem Deutschen -- Dank sei es unsrer Klein¬
staaterei mit ihren Höfen und deren vortrefflichen Kapellen -- geradezu un¬
glaublich erscheinen muß. In ganz England zählte man bis vor "zwanzig Jahren
zwei Konzertorchester: das der Philharmonischen Gesellschaft in London und das
des Deutschen Charles Halle in Manchester, eine Art Neisekapelle, welche in der
Zeit ihres Wirkens im Lande die nützlichsten Pionier- und Missionärdienste ge¬
leistet hat. Jetzt wird es etwas besser, aber es giebt noch so viele Städte von
zwei- bis dreihunderttausend Einwohnern in England, wo ohne Hilfe von London
her kein Shmphouiekouzert und keine Oratorieuanfführuug zustande kommen kann.
In London, der großen Vicrmillionenstadt, haben sich inzwischen neben der
alten berühmten "Philharmonischen Gesellschaft" noch mehrere Vereine für In¬
strumentalmusik gebildet, aber es giebt nur ein zweites Orchester, welches deutschen
Ansprüchen genügt: das des Krystallpalastes. Unter Direktion eines Deutschen,
namens Manns, hat sich dasselbe der neuern Musik sehr angenommen und wird
dafür, von jungen Schwärmern in einer Weise gelobt, welche seinen Leistungen
und der Kapazität des Herrn Manns nicht ganz entspricht. Dieser ist eine Art
Bilse -- nicht mehr und nicht weniger. Daß man ihm die Direktion der großen
Händelfcste übertragen hat, ist für uns Deutsche verwunderlich, aber für die
englischen Verhältnisse bezeichnend. England hat zu alle"? Zeiten Sänger ge¬
habt, die mit Seele zu singen wußten und die auch auf dem Festlande Ehre
einlegten. Erinnern wir uus an O'Kelly, an Miß Stvrace aus Mozarts, an
Miß Shaw und Novello aus Mendelssohns Zeit. Spärlicher war es mit guten
Jnstrumentalvirtnoseu versehen. Das Allerseltenste aber sind gute englische
Dirigenten. Das Technische und Mechanische beherrschen sie meist: es geht rein
und prüzis zu, aber auch äußerst langweilig. Wir vermissen so ziemlich alles,
was die Musik erst zur Musik macht: die Feinheit, das Feuer und das Leben
im Vortrage. Diese Dirigenten sind der böse Genius der Aufführungen, sie
fungiren wie Automaten nud könnten ebenso gut, vielleicht noch besser, weg¬
bleiben. Wir wissen nicht, woran es liegt, daß unter den Engländern so wenig
Musiker gedeihen, die fähig siud, den Geist der Kunstwerke auf die Massen zu
übertragen. Einige suchen die Ursache in der Mvney-Macherei, welche den Herren
leine Zeit läßt, sich in große Kompositionen zu vertiefen; andre sagen wieder,
die Ursache liege im Temperament der Nation, in seiner schwerfälligen und im
Grunde antimusikalischcu Organisation. Zu bedauern ist dieser Mangel an fähigen
Dirigenten namentlich in Bezug auf die Chöre. Denn im allgemeinen sind die
natürlichen Bedingungen für den Chorgesang in England günstiger als bei uns.
Das Material ist durchschnittlich besser. So paradox dies angesichts der schwachen
Leistungen der Engländer auf dem Gebiete der höhern Musik klingt, die That¬
sache ist doch unverkennbar: die Liebe zur Musik in England ist größer als bei
uns in Deutschland. Man trifft infolgedessen dort einen viel größern Prozent-


Englische Musik.

Orchester besessen hätte. Daran ist es aber bis auf den heutigen Tag noch
in einem Grade arm, welcher einem Deutschen — Dank sei es unsrer Klein¬
staaterei mit ihren Höfen und deren vortrefflichen Kapellen — geradezu un¬
glaublich erscheinen muß. In ganz England zählte man bis vor „zwanzig Jahren
zwei Konzertorchester: das der Philharmonischen Gesellschaft in London und das
des Deutschen Charles Halle in Manchester, eine Art Neisekapelle, welche in der
Zeit ihres Wirkens im Lande die nützlichsten Pionier- und Missionärdienste ge¬
leistet hat. Jetzt wird es etwas besser, aber es giebt noch so viele Städte von
zwei- bis dreihunderttausend Einwohnern in England, wo ohne Hilfe von London
her kein Shmphouiekouzert und keine Oratorieuanfführuug zustande kommen kann.
In London, der großen Vicrmillionenstadt, haben sich inzwischen neben der
alten berühmten „Philharmonischen Gesellschaft" noch mehrere Vereine für In¬
strumentalmusik gebildet, aber es giebt nur ein zweites Orchester, welches deutschen
Ansprüchen genügt: das des Krystallpalastes. Unter Direktion eines Deutschen,
namens Manns, hat sich dasselbe der neuern Musik sehr angenommen und wird
dafür, von jungen Schwärmern in einer Weise gelobt, welche seinen Leistungen
und der Kapazität des Herrn Manns nicht ganz entspricht. Dieser ist eine Art
Bilse — nicht mehr und nicht weniger. Daß man ihm die Direktion der großen
Händelfcste übertragen hat, ist für uns Deutsche verwunderlich, aber für die
englischen Verhältnisse bezeichnend. England hat zu alle«? Zeiten Sänger ge¬
habt, die mit Seele zu singen wußten und die auch auf dem Festlande Ehre
einlegten. Erinnern wir uus an O'Kelly, an Miß Stvrace aus Mozarts, an
Miß Shaw und Novello aus Mendelssohns Zeit. Spärlicher war es mit guten
Jnstrumentalvirtnoseu versehen. Das Allerseltenste aber sind gute englische
Dirigenten. Das Technische und Mechanische beherrschen sie meist: es geht rein
und prüzis zu, aber auch äußerst langweilig. Wir vermissen so ziemlich alles,
was die Musik erst zur Musik macht: die Feinheit, das Feuer und das Leben
im Vortrage. Diese Dirigenten sind der böse Genius der Aufführungen, sie
fungiren wie Automaten nud könnten ebenso gut, vielleicht noch besser, weg¬
bleiben. Wir wissen nicht, woran es liegt, daß unter den Engländern so wenig
Musiker gedeihen, die fähig siud, den Geist der Kunstwerke auf die Massen zu
übertragen. Einige suchen die Ursache in der Mvney-Macherei, welche den Herren
leine Zeit läßt, sich in große Kompositionen zu vertiefen; andre sagen wieder,
die Ursache liege im Temperament der Nation, in seiner schwerfälligen und im
Grunde antimusikalischcu Organisation. Zu bedauern ist dieser Mangel an fähigen
Dirigenten namentlich in Bezug auf die Chöre. Denn im allgemeinen sind die
natürlichen Bedingungen für den Chorgesang in England günstiger als bei uns.
Das Material ist durchschnittlich besser. So paradox dies angesichts der schwachen
Leistungen der Engländer auf dem Gebiete der höhern Musik klingt, die That¬
sache ist doch unverkennbar: die Liebe zur Musik in England ist größer als bei
uns in Deutschland. Man trifft infolgedessen dort einen viel größern Prozent-


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[0530] Englische Musik. Orchester besessen hätte. Daran ist es aber bis auf den heutigen Tag noch in einem Grade arm, welcher einem Deutschen — Dank sei es unsrer Klein¬ staaterei mit ihren Höfen und deren vortrefflichen Kapellen — geradezu un¬ glaublich erscheinen muß. In ganz England zählte man bis vor „zwanzig Jahren zwei Konzertorchester: das der Philharmonischen Gesellschaft in London und das des Deutschen Charles Halle in Manchester, eine Art Neisekapelle, welche in der Zeit ihres Wirkens im Lande die nützlichsten Pionier- und Missionärdienste ge¬ leistet hat. Jetzt wird es etwas besser, aber es giebt noch so viele Städte von zwei- bis dreihunderttausend Einwohnern in England, wo ohne Hilfe von London her kein Shmphouiekouzert und keine Oratorieuanfführuug zustande kommen kann. In London, der großen Vicrmillionenstadt, haben sich inzwischen neben der alten berühmten „Philharmonischen Gesellschaft" noch mehrere Vereine für In¬ strumentalmusik gebildet, aber es giebt nur ein zweites Orchester, welches deutschen Ansprüchen genügt: das des Krystallpalastes. Unter Direktion eines Deutschen, namens Manns, hat sich dasselbe der neuern Musik sehr angenommen und wird dafür, von jungen Schwärmern in einer Weise gelobt, welche seinen Leistungen und der Kapazität des Herrn Manns nicht ganz entspricht. Dieser ist eine Art Bilse — nicht mehr und nicht weniger. Daß man ihm die Direktion der großen Händelfcste übertragen hat, ist für uns Deutsche verwunderlich, aber für die englischen Verhältnisse bezeichnend. England hat zu alle«? Zeiten Sänger ge¬ habt, die mit Seele zu singen wußten und die auch auf dem Festlande Ehre einlegten. Erinnern wir uus an O'Kelly, an Miß Stvrace aus Mozarts, an Miß Shaw und Novello aus Mendelssohns Zeit. Spärlicher war es mit guten Jnstrumentalvirtnoseu versehen. Das Allerseltenste aber sind gute englische Dirigenten. Das Technische und Mechanische beherrschen sie meist: es geht rein und prüzis zu, aber auch äußerst langweilig. Wir vermissen so ziemlich alles, was die Musik erst zur Musik macht: die Feinheit, das Feuer und das Leben im Vortrage. Diese Dirigenten sind der böse Genius der Aufführungen, sie fungiren wie Automaten nud könnten ebenso gut, vielleicht noch besser, weg¬ bleiben. Wir wissen nicht, woran es liegt, daß unter den Engländern so wenig Musiker gedeihen, die fähig siud, den Geist der Kunstwerke auf die Massen zu übertragen. Einige suchen die Ursache in der Mvney-Macherei, welche den Herren leine Zeit läßt, sich in große Kompositionen zu vertiefen; andre sagen wieder, die Ursache liege im Temperament der Nation, in seiner schwerfälligen und im Grunde antimusikalischcu Organisation. Zu bedauern ist dieser Mangel an fähigen Dirigenten namentlich in Bezug auf die Chöre. Denn im allgemeinen sind die natürlichen Bedingungen für den Chorgesang in England günstiger als bei uns. Das Material ist durchschnittlich besser. So paradox dies angesichts der schwachen Leistungen der Engländer auf dem Gebiete der höhern Musik klingt, die That¬ sache ist doch unverkennbar: die Liebe zur Musik in England ist größer als bei uns in Deutschland. Man trifft infolgedessen dort einen viel größern Prozent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/530>, abgerufen am 01.09.2024.