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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Populäre Schriftsteller.

eben eine andre geworden, die Nicolais von heute sind sehr gebildet, sehr ab¬
sprechend, haben unter Stangens Führung die Mitternachtssonne und die Pyra¬
miden persönlich kennen gelernt; und wenn ein Schriftsteller so recht ausspricht,
was sie selbst auf ihren Reisen im Einklang oder im Widerspruch mit dem
Reisehandbuch bei Aussichten, in Galerien oder an der Table d'böte empfunden
haben, ohne es so fließend von sich geben zu können, dann ist er ihr Mann.

Nicht auf eine Linie mit Julius Stinte ist Max Nord an zu stellen, aber
eine gewisse Gemeinschaft besteht doch zwischen ihnen. Der Name dieses Schrift¬
stellers ist nur meines Erinnerns zuerst durch Anzeigen seines Buches "Die
konventionellen Lügen der Kulturmenschheit" bekannt geworden. So lobend die
Besprechungen meistens waren, mußte man doch den Eindruck erhalten, daß da
lauter allbekannte Dinge als neue Entdeckungen an den Maun gebracht werden
sollten. Auch das genannte Werk hat es in kurzer Zeit auf elf Auflagen ge¬
bracht, was noch mehr sagen will, da es den doppelten Preis von "Buch-
holzens" hat. Gehen wir etwa abermals einer Periode der Rückkehr zur reinen
unverdorbenen Natur entgegen, daß die Leute mit solcher Andacht dein alten
Liede von Europas übertüuchter Höflichkeit lauschen?

Wie dem auch sei: in dein neuen Buche von Nordau, Paradoxe") (hio!
bisher sagte mau Paradoxen), begegnen wir in der That teils Wahrheiten, an
welche" kaum jemand zweifeln dürfte, und Zweifeln, welche zu dem bewußten
alten Sauerteig gehören, während der Verfasser der Meinung ist, "Behaup¬
tungen, die für unantastbar gelten, weil man sie nie zur Rede gestellt hat, nach
ihren Legitimativnspapieren gefragt und Gemeinplätze gezwungen zu haben, den
Wahrheitsbeweis anzutreten." Ich kaun mich nicht rühmen, sämtliche^414 Seiten
des Buches gelesen zu haben, denn die Methode bleibt immer dieselbe und hat
etwas sehr ermüdendes. Schon die eben gegebene Probe aus dem Vorworte
zeigt die Manier, denselben Gedanken mehrmals in verschiedner Form vorzu¬
bringen; und die Vorliebe des Verfassers für den geistreichelnden Fenilletvnstil,
der sich seit Börne und Heine ausgebildet hat, die Sucht nach überraschenden
Wendungen und erzwungenen Vergleichen wird bei der Erörterung ernster Themen
recht unangenehm. Wäre Nvrdan ein Autodidakt, so würde der naive Glaube,
seine Gedanken seien früher nie gedacht worden, nicht befremden. Allein er ist
ein sehr unterrichteter, belesener Mann, seines Zeichens, wie es scheint, Physiolog.
So ist kaum etwas andres anzunehmen, als daß er ein Einsiedlerleben führe,
sei es in einem weltvergessenen Winkel, sei es in einer großen Stadt, z. B. Paris,
von dem er am häufigsten spricht. Ganz wörtlich wird das allerdings nicht zu
nehmen sein; aber daß er nicht oder selten mit wirklich gebildeten Menschen ver¬
kehrt, geht u. a. aus der Schilderung einer Abendgesellschaft (S. 76 ff.) hervor
-- denn mag er noch so arg karikirt haben, so muß die Gesellschaft doch eine



Leipzig B. Mischer, 1885.
Populäre Schriftsteller.

eben eine andre geworden, die Nicolais von heute sind sehr gebildet, sehr ab¬
sprechend, haben unter Stangens Führung die Mitternachtssonne und die Pyra¬
miden persönlich kennen gelernt; und wenn ein Schriftsteller so recht ausspricht,
was sie selbst auf ihren Reisen im Einklang oder im Widerspruch mit dem
Reisehandbuch bei Aussichten, in Galerien oder an der Table d'böte empfunden
haben, ohne es so fließend von sich geben zu können, dann ist er ihr Mann.

Nicht auf eine Linie mit Julius Stinte ist Max Nord an zu stellen, aber
eine gewisse Gemeinschaft besteht doch zwischen ihnen. Der Name dieses Schrift¬
stellers ist nur meines Erinnerns zuerst durch Anzeigen seines Buches „Die
konventionellen Lügen der Kulturmenschheit" bekannt geworden. So lobend die
Besprechungen meistens waren, mußte man doch den Eindruck erhalten, daß da
lauter allbekannte Dinge als neue Entdeckungen an den Maun gebracht werden
sollten. Auch das genannte Werk hat es in kurzer Zeit auf elf Auflagen ge¬
bracht, was noch mehr sagen will, da es den doppelten Preis von „Buch-
holzens" hat. Gehen wir etwa abermals einer Periode der Rückkehr zur reinen
unverdorbenen Natur entgegen, daß die Leute mit solcher Andacht dein alten
Liede von Europas übertüuchter Höflichkeit lauschen?

Wie dem auch sei: in dein neuen Buche von Nordau, Paradoxe") (hio!
bisher sagte mau Paradoxen), begegnen wir in der That teils Wahrheiten, an
welche» kaum jemand zweifeln dürfte, und Zweifeln, welche zu dem bewußten
alten Sauerteig gehören, während der Verfasser der Meinung ist, „Behaup¬
tungen, die für unantastbar gelten, weil man sie nie zur Rede gestellt hat, nach
ihren Legitimativnspapieren gefragt und Gemeinplätze gezwungen zu haben, den
Wahrheitsbeweis anzutreten." Ich kaun mich nicht rühmen, sämtliche^414 Seiten
des Buches gelesen zu haben, denn die Methode bleibt immer dieselbe und hat
etwas sehr ermüdendes. Schon die eben gegebene Probe aus dem Vorworte
zeigt die Manier, denselben Gedanken mehrmals in verschiedner Form vorzu¬
bringen; und die Vorliebe des Verfassers für den geistreichelnden Fenilletvnstil,
der sich seit Börne und Heine ausgebildet hat, die Sucht nach überraschenden
Wendungen und erzwungenen Vergleichen wird bei der Erörterung ernster Themen
recht unangenehm. Wäre Nvrdan ein Autodidakt, so würde der naive Glaube,
seine Gedanken seien früher nie gedacht worden, nicht befremden. Allein er ist
ein sehr unterrichteter, belesener Mann, seines Zeichens, wie es scheint, Physiolog.
So ist kaum etwas andres anzunehmen, als daß er ein Einsiedlerleben führe,
sei es in einem weltvergessenen Winkel, sei es in einer großen Stadt, z. B. Paris,
von dem er am häufigsten spricht. Ganz wörtlich wird das allerdings nicht zu
nehmen sein; aber daß er nicht oder selten mit wirklich gebildeten Menschen ver¬
kehrt, geht u. a. aus der Schilderung einer Abendgesellschaft (S. 76 ff.) hervor
— denn mag er noch so arg karikirt haben, so muß die Gesellschaft doch eine



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[0477] Populäre Schriftsteller. eben eine andre geworden, die Nicolais von heute sind sehr gebildet, sehr ab¬ sprechend, haben unter Stangens Führung die Mitternachtssonne und die Pyra¬ miden persönlich kennen gelernt; und wenn ein Schriftsteller so recht ausspricht, was sie selbst auf ihren Reisen im Einklang oder im Widerspruch mit dem Reisehandbuch bei Aussichten, in Galerien oder an der Table d'böte empfunden haben, ohne es so fließend von sich geben zu können, dann ist er ihr Mann. Nicht auf eine Linie mit Julius Stinte ist Max Nord an zu stellen, aber eine gewisse Gemeinschaft besteht doch zwischen ihnen. Der Name dieses Schrift¬ stellers ist nur meines Erinnerns zuerst durch Anzeigen seines Buches „Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit" bekannt geworden. So lobend die Besprechungen meistens waren, mußte man doch den Eindruck erhalten, daß da lauter allbekannte Dinge als neue Entdeckungen an den Maun gebracht werden sollten. Auch das genannte Werk hat es in kurzer Zeit auf elf Auflagen ge¬ bracht, was noch mehr sagen will, da es den doppelten Preis von „Buch- holzens" hat. Gehen wir etwa abermals einer Periode der Rückkehr zur reinen unverdorbenen Natur entgegen, daß die Leute mit solcher Andacht dein alten Liede von Europas übertüuchter Höflichkeit lauschen? Wie dem auch sei: in dein neuen Buche von Nordau, Paradoxe") (hio! bisher sagte mau Paradoxen), begegnen wir in der That teils Wahrheiten, an welche» kaum jemand zweifeln dürfte, und Zweifeln, welche zu dem bewußten alten Sauerteig gehören, während der Verfasser der Meinung ist, „Behaup¬ tungen, die für unantastbar gelten, weil man sie nie zur Rede gestellt hat, nach ihren Legitimativnspapieren gefragt und Gemeinplätze gezwungen zu haben, den Wahrheitsbeweis anzutreten." Ich kaun mich nicht rühmen, sämtliche^414 Seiten des Buches gelesen zu haben, denn die Methode bleibt immer dieselbe und hat etwas sehr ermüdendes. Schon die eben gegebene Probe aus dem Vorworte zeigt die Manier, denselben Gedanken mehrmals in verschiedner Form vorzu¬ bringen; und die Vorliebe des Verfassers für den geistreichelnden Fenilletvnstil, der sich seit Börne und Heine ausgebildet hat, die Sucht nach überraschenden Wendungen und erzwungenen Vergleichen wird bei der Erörterung ernster Themen recht unangenehm. Wäre Nvrdan ein Autodidakt, so würde der naive Glaube, seine Gedanken seien früher nie gedacht worden, nicht befremden. Allein er ist ein sehr unterrichteter, belesener Mann, seines Zeichens, wie es scheint, Physiolog. So ist kaum etwas andres anzunehmen, als daß er ein Einsiedlerleben führe, sei es in einem weltvergessenen Winkel, sei es in einer großen Stadt, z. B. Paris, von dem er am häufigsten spricht. Ganz wörtlich wird das allerdings nicht zu nehmen sein; aber daß er nicht oder selten mit wirklich gebildeten Menschen ver¬ kehrt, geht u. a. aus der Schilderung einer Abendgesellschaft (S. 76 ff.) hervor — denn mag er noch so arg karikirt haben, so muß die Gesellschaft doch eine Leipzig B. Mischer, 1885.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/477>, abgerufen am 24.11.2024.