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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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schiedncn Weltstimmung, zu seiner innern Erscheinung gestanden haben muß;
denn wenn die Goethe-Forschung, außer etwa bei seinem Auftreten in Weimar
in Wertherkleidung, auf diesen Punkt noch nicht weiter eingegangen ist, so wird
sie doch wohl noch darauf kommen müssen, die erhaltnen Bildnisse geben Anhalt
genug dazu, und da können denn auch die Knöpfe nicht außer Acht bleiben.
Ist's einem doch in Augenblicken einer gewissen so recht goethischen Stimmung,
als könnte auch jeder Knopf an seinem Kleide nicht anders als irgendetwas
Gocthischcs an sich gehabt haben.

Aber ich kann mit meinem Goethe-Knopf nicht so lange warten, ich lebe ja
dann nicht mehr. So muß denn die Phantasie einstweilen die versteckten Pfade
suchen, welche einst die strenge Wissenschaft finden wird. Ist es doch ohnehin
einer von den Zcitirrtümern, denen man sich entziehen muß, daß die strenge
Forschung die Phantasie ganz entbehren könne oder ängstlich meiden müsse,
während sie in Wahrheit schon vielfach die Wege der Phantasie wandelt, wie
oben erwähnt ist.

Die Phantasie steht da zuerst vor der Frage: Wie lange trug Goethe
seiue Röcke? Gewiß nicht, wie sich das nun in der guten Gesellschaft entwickelt
hat, nur etwa ein Jahr lang; denn das Gescllschaftsgesetz, eigentlich Schneider¬
gesetz, bestand noch in meiner Jugend nicht, daß man jedes Jahr oder wohl
mich sür jede Sommer- und Wintersaison einen neuen Rock brauche, um im
Einklange zu bleiben mit dem gebietenden Geisteshauch dort vom Pariser
Schneider-Olymp her, der für jede Saison etwas ungeahnt Neues, Schönes
aufstellt, als äußersten, also sichersten Maßstab der Bildung. Sicherheit sür
Goethen wäre wohl nnr zu gewinnen, wenn es einem gelänge, eine Überlieferung
in einer weimarischen Schneiderfamilie nnfzutreibeu, was ich nicht für unmöglich
halten kann, da ich z. B. selbst einmal vom Schwiegersöhne des Sohnes eines
Dieners Goethes Züge von seinein Verhalten bei dem plündernden Auftreten
der Franzosen in Weimar nach der Jenaer Schlacht erzählt bekommen habe,
und das war im Jahre 1873 oder so, also um siebzig Jahre oder mehr zurück¬
gehend.

Goethe trug seine Röcke, das darf man sich einstweilen mit der Phantasie
vorstellen, gewiß länger als wir, und auch dann, wenn er sie öffentlich ablegte,
trug er sie wohl noch im Hause weiter, wie man das ja jetzt noch macht. Auch
das kann mich in der Vorstellung nicht irre machen, daß wir ihn bei Heinrich
Voß im Anfang unsers Jahrhunderts abends in einer wollenen Jacke am Ofen
lehnend und Welses und Hohes sagend sehen, also ganz wie ich in den vierziger
Jahren meinen Onkel, der Tischlermeister war, gesehen habe, d. h. was die
wollene Jacke betrifft. Leider giebt Voß die Farbe der Jacke nicht an, was
doch für die Vorstellung eine leidige Lücke bleibt, man denkt sie sich nun un¬
willkürlich oder vielmehr willkürlich von ungefärbter Wolle, also in häßlichster
Farbe (die meines Onkels war blau).


schiedncn Weltstimmung, zu seiner innern Erscheinung gestanden haben muß;
denn wenn die Goethe-Forschung, außer etwa bei seinem Auftreten in Weimar
in Wertherkleidung, auf diesen Punkt noch nicht weiter eingegangen ist, so wird
sie doch wohl noch darauf kommen müssen, die erhaltnen Bildnisse geben Anhalt
genug dazu, und da können denn auch die Knöpfe nicht außer Acht bleiben.
Ist's einem doch in Augenblicken einer gewissen so recht goethischen Stimmung,
als könnte auch jeder Knopf an seinem Kleide nicht anders als irgendetwas
Gocthischcs an sich gehabt haben.

Aber ich kann mit meinem Goethe-Knopf nicht so lange warten, ich lebe ja
dann nicht mehr. So muß denn die Phantasie einstweilen die versteckten Pfade
suchen, welche einst die strenge Wissenschaft finden wird. Ist es doch ohnehin
einer von den Zcitirrtümern, denen man sich entziehen muß, daß die strenge
Forschung die Phantasie ganz entbehren könne oder ängstlich meiden müsse,
während sie in Wahrheit schon vielfach die Wege der Phantasie wandelt, wie
oben erwähnt ist.

Die Phantasie steht da zuerst vor der Frage: Wie lange trug Goethe
seiue Röcke? Gewiß nicht, wie sich das nun in der guten Gesellschaft entwickelt
hat, nur etwa ein Jahr lang; denn das Gescllschaftsgesetz, eigentlich Schneider¬
gesetz, bestand noch in meiner Jugend nicht, daß man jedes Jahr oder wohl
mich sür jede Sommer- und Wintersaison einen neuen Rock brauche, um im
Einklange zu bleiben mit dem gebietenden Geisteshauch dort vom Pariser
Schneider-Olymp her, der für jede Saison etwas ungeahnt Neues, Schönes
aufstellt, als äußersten, also sichersten Maßstab der Bildung. Sicherheit sür
Goethen wäre wohl nnr zu gewinnen, wenn es einem gelänge, eine Überlieferung
in einer weimarischen Schneiderfamilie nnfzutreibeu, was ich nicht für unmöglich
halten kann, da ich z. B. selbst einmal vom Schwiegersöhne des Sohnes eines
Dieners Goethes Züge von seinein Verhalten bei dem plündernden Auftreten
der Franzosen in Weimar nach der Jenaer Schlacht erzählt bekommen habe,
und das war im Jahre 1873 oder so, also um siebzig Jahre oder mehr zurück¬
gehend.

Goethe trug seine Röcke, das darf man sich einstweilen mit der Phantasie
vorstellen, gewiß länger als wir, und auch dann, wenn er sie öffentlich ablegte,
trug er sie wohl noch im Hause weiter, wie man das ja jetzt noch macht. Auch
das kann mich in der Vorstellung nicht irre machen, daß wir ihn bei Heinrich
Voß im Anfang unsers Jahrhunderts abends in einer wollenen Jacke am Ofen
lehnend und Welses und Hohes sagend sehen, also ganz wie ich in den vierziger
Jahren meinen Onkel, der Tischlermeister war, gesehen habe, d. h. was die
wollene Jacke betrifft. Leider giebt Voß die Farbe der Jacke nicht an, was
doch für die Vorstellung eine leidige Lücke bleibt, man denkt sie sich nun un¬
willkürlich oder vielmehr willkürlich von ungefärbter Wolle, also in häßlichster
Farbe (die meines Onkels war blau).


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[0419] schiedncn Weltstimmung, zu seiner innern Erscheinung gestanden haben muß; denn wenn die Goethe-Forschung, außer etwa bei seinem Auftreten in Weimar in Wertherkleidung, auf diesen Punkt noch nicht weiter eingegangen ist, so wird sie doch wohl noch darauf kommen müssen, die erhaltnen Bildnisse geben Anhalt genug dazu, und da können denn auch die Knöpfe nicht außer Acht bleiben. Ist's einem doch in Augenblicken einer gewissen so recht goethischen Stimmung, als könnte auch jeder Knopf an seinem Kleide nicht anders als irgendetwas Gocthischcs an sich gehabt haben. Aber ich kann mit meinem Goethe-Knopf nicht so lange warten, ich lebe ja dann nicht mehr. So muß denn die Phantasie einstweilen die versteckten Pfade suchen, welche einst die strenge Wissenschaft finden wird. Ist es doch ohnehin einer von den Zcitirrtümern, denen man sich entziehen muß, daß die strenge Forschung die Phantasie ganz entbehren könne oder ängstlich meiden müsse, während sie in Wahrheit schon vielfach die Wege der Phantasie wandelt, wie oben erwähnt ist. Die Phantasie steht da zuerst vor der Frage: Wie lange trug Goethe seiue Röcke? Gewiß nicht, wie sich das nun in der guten Gesellschaft entwickelt hat, nur etwa ein Jahr lang; denn das Gescllschaftsgesetz, eigentlich Schneider¬ gesetz, bestand noch in meiner Jugend nicht, daß man jedes Jahr oder wohl mich sür jede Sommer- und Wintersaison einen neuen Rock brauche, um im Einklange zu bleiben mit dem gebietenden Geisteshauch dort vom Pariser Schneider-Olymp her, der für jede Saison etwas ungeahnt Neues, Schönes aufstellt, als äußersten, also sichersten Maßstab der Bildung. Sicherheit sür Goethen wäre wohl nnr zu gewinnen, wenn es einem gelänge, eine Überlieferung in einer weimarischen Schneiderfamilie nnfzutreibeu, was ich nicht für unmöglich halten kann, da ich z. B. selbst einmal vom Schwiegersöhne des Sohnes eines Dieners Goethes Züge von seinein Verhalten bei dem plündernden Auftreten der Franzosen in Weimar nach der Jenaer Schlacht erzählt bekommen habe, und das war im Jahre 1873 oder so, also um siebzig Jahre oder mehr zurück¬ gehend. Goethe trug seine Röcke, das darf man sich einstweilen mit der Phantasie vorstellen, gewiß länger als wir, und auch dann, wenn er sie öffentlich ablegte, trug er sie wohl noch im Hause weiter, wie man das ja jetzt noch macht. Auch das kann mich in der Vorstellung nicht irre machen, daß wir ihn bei Heinrich Voß im Anfang unsers Jahrhunderts abends in einer wollenen Jacke am Ofen lehnend und Welses und Hohes sagend sehen, also ganz wie ich in den vierziger Jahren meinen Onkel, der Tischlermeister war, gesehen habe, d. h. was die wollene Jacke betrifft. Leider giebt Voß die Farbe der Jacke nicht an, was doch für die Vorstellung eine leidige Lücke bleibt, man denkt sie sich nun un¬ willkürlich oder vielmehr willkürlich von ungefärbter Wolle, also in häßlichster Farbe (die meines Onkels war blau).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/419>, abgerufen am 01.09.2024.